39. Dichter müsste man sein Aus «Politiker wider Willen»

1931 heiratet Henry Vallotton in zweiter Ehe die 30-jährige Bernerin Yvonne (Renée), geborene von Freudenreich, die sich von ihrem ersten Mann, dem Juristen Erich von Wattenwyl, hat scheiden lassen. Als Rainer Maria Rilke 1919 in Bern aufgetaucht war, um eine Bleibe in der Schweiz zu suchen, wurde Renée seine gute Fee. Der Dichter korrespondierte mit ihr bis zu seinem Tod 1926. Nach seiner Heirat mit Renée spielt Henry mit dem Gedanken, die politische Laufbahn aufzugeben, und teilt dies auch Marcel mit. Ein Telefongespräch zwischen den beiden Freunden ist dann – wie Vallotton Pilet schreibt – entscheidend für seinen Entschluss, in der Politik weiter zu machen.

Die Waadtländer Radikalen haben nach dem altersbedingten Rücktritt Gaudards und dem Tod Maillefers Vallotton bitter nötig. Bei den Nationalratswahlen im Oktober 1931 erzielten die Sozialisten in der Waadt deutliche Stimmengewinne. In bürgerlichen Kreisen befürchtet man, dass die Stadt Lausanne wie zuvor Zürich, Biel, La Chaux-de-Fonds und Le Locle ins rote Lager kippen könnte, was dann im November 1933 auch geschehen wird. Mit Schwung macht sich Vallotton Anfang 1932 daran, den zerstrittenen Bürgerblock in Stadt und Kanton zu einen. Er gründet die überparteiliche Association Patriotique Vaudoise mit dem Ziel, «Vereine, Männer, Frauen und Jugendliche zusammenzubringen, die für die Aufrechterhaltung unserer nationalen Institutionen kämpfen, sich jedem Programm mit revolutionärer Tendenz widersetzen und das Vaterland und die Ordnung, welche die Grundlage unserer Demokratie sind, verteidigen wollen».

Einer der Vizepräsidenten der von Vallotton geführten neuen Gruppierung ist der Kommandant der 1. Division, Henri Guisan. Vallotton will die Taufe der neuen Vereinigung gebührend feiern und wählt den Tag des Eintritts der Waadt in die Eidgenossenschaft, den 14. April, als Datum für eine grosse Kundgebung aus. Anwesend sind die Waadtländer und Lausanner Regierungen in corpore, sämtliche Präfekten des Kantons, hohe Militärs, Bundespräsident Motta, Bundesrat Pilet-Golaz und alt Bundesrat Chuard. Die Feier findet nicht in einem der Säle statt, in denen sonst politische Veranstaltungen abgehalten werden, sondern in der festlich von Scheinwerfern beleuchteten Kathedrale.

Nach Grussworten an Motta würdigt Vallotton den Waadtländer Bundesrat, seinen Freund Marcel Pilet-Golaz, mit dem ihm eigenen Pathos:

Hier, auf diesem seit vierzehn Jahrhunderten gottgeweihten Stück Erde, dieser Kathedrale, die Zeuge ist der ganzen Geschichte dieses pays, haben Sie Ihren ersten Treueschwur geleistet, 1921 als Abgeordneter im Waadtländer Grossen Rat. Acht Jahre später wurden Sie Bundesrat. Sie stehen an der Schwelle Ihrer Karriere in Bern. Aber bereits jetzt trägt Ihre glänzende Intelligenz, Ihre grosse Arbeitskraft, Ihre erstaunlich rasche Auffassungsgabe, Ihr zäher Wille und die Sicherheit Ihres Urteils Ihnen die Wertschätzung all derer ein, mit denen Sie zusammenarbeiten. In den schwierigen Augenblicken Ihrer Karriere, in den Stunden der Beklommenheit oder des Zweifels, denken Sie daran, dass das Waadtländer Volk Sie liebt und dass Sie ganz auf seine Treue zählen können.

Die Schmeicheleien sind des Guten etwas gar viel. Nach der von der Union chorale gesungenen «Invocation» Mozarts folgt die ungeduldig erwartete Ansprache von M. le conseiller fédéral Pilet-Golaz. Man habe ihn gebeten, das Waadtländer Vaterland zu feiern, beginnt er, «welch riskante Ehre!». Denn, «um die unzähligen Schönheiten unseres Landes zu besingen, müsste man Dichter, Maler, Musiker sein. Hélas! Ich bin nichts von alledem.»

Trotzdem hebt Pilet zu einer Hymne auf das pays de Vaud an. Er feiert die vier Jahreszeiten seines schönen Kantons: Winter, «das raue Vallée der kalten Januare. Die bittere Bise, die aufs Gesicht prasselt, das Blut durchpeitscht, den Schritt zur sicheren Wohnung beschleunigt …»; es folgt «der zärtliche Frühling der hübschen Côte, am Rand des klaren Gestades, wo die Wellen auf den feinen Sand plätschern …»; dann der Sommer des Jorat. «Die langsame Glocke des Weilers lässt zwölf Schläge auf die zitternde Luft niederfallen. Der grosse Bauernhof mit dem roten Dach schlummert im Heu sanft ein.» Schliesslich der «flammende Herbst» des Lavaux. «Die Lieder klingen fröhlich in den Reben. Die Freude lacht, der Tanz dreht sich. Das Leben hüpft aus den gezuckerten Bottichen.»

Nach seiner Hymne auf die Natur malt Pilet das Bild des Waadtländers, der oft weich scheine, weil die Vorsehung ihn verwöhne:

Die Schwierigkeiten sind nicht seine Sache. Er versucht lieber, sie zu umgehen, als sie zu bezwingen. Wenn er sie anpacken muss, dann zögert er, drückt sich vor ihnen. Er weiss ja, dass die Zeit nachsichtig ist, dass sie es übernimmt, die Dinge ins Lot zu bringen.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

 

Der Waadtländer ist Geniesser, er verschmäht die Güter dieser Welt nicht. Sie sind vergänglich, pflücken wir sie!

Der Ärger stellt sich von selbst ein, belasten wir unsere Existenz nicht damit! Ist dies nicht ein wenig unsere tägliche Philosophie? Deshalb, glaube ich, bleiben wir gerne auf der Hut. Wir öffnen uns nur mit berechneter Vorsicht. Wir lieben es gar nicht, uns zu kompromittieren. Wir misstrauen selbst dem Enthusiasmus! Weiss Gott, wohin er uns führen könnte. Don Quijote ist für uns keine Versuchung.

Der «gebieterische Wille», führt Pilet weiter aus, «ist auch nicht unsere Stärke und überbordende Energien beunruhigen uns. Wir haben Mühe, uns aufzuraffen.»

Als terriens [Landleute], die wir sind, als Realisten lehnen wir uns nicht gegen die grossen natürlichen und menschlichen Gesetze auf. Wir erdulden sie mutig, ohne mit dem Wunder zu rechnen, das das Unvermeidliche von uns abwenden könnte. Was wir überhaupt nicht schätzen, sind Scharlatane, Phrasendrescher, die alles versprechen und nichts halten. Wir sind uns bewusst, dass die Welt die Welt ist, ungeachtet der Systeme oder der Regime. Wir vergessen auch nie, dass jedes Leben, ob glänzend oder jämmerlich, auf die gleiche Weise zu Ende geht, und aus dieser Überlegung schöpfen wir die Weisheit, ruhig und besonnen zu sein.

Unter Absingen des Schweizerpsalms endet die manifestation grandiose. Zu den Persönlichkeiten, die Pilet zu seiner Ansprache beglückwünschen, gehört auch sein Förderer Ferdinand Porchet, der ihm tags darauf auch noch brieflich für die «bewegende und bewundernswerte Rede» dankt: «Glücklich das Land, das Männer hervorbringt, die seine Stimme verstehen. Glücklich die Männer, die zu sagen wissen, was sie dank dieser Stimme begriffen haben.» Auch Henry Vallotton greift zur Feder. Marcels Rede sei glänzend gewesen «und – erstmals in meinem Leben – habe ich die Note zehn gegeben! Renée hat dir mit Entzücken gelauscht; sie war von deiner Eloquenz und deiner wunderbaren Sprache ergriffen. Ich bin nur traurig, das Tillon an diesem Abend nicht hat bei uns sein können.» War sie wieder einmal unpässlich?

Keine Höchstnote erhält der Bundesrat von Gustave Neuhaus, dem Chefredaktor der Neuenburger Parteizeitung La Suisse libérale. Im Gegenteil. In seinem Leitartikel «M. Pilet-Golaz zelebriert das Vaterland» macht sich Neuhaus einen Spass daraus, Stilblüten der bundesrätlichen Ansprache kritisch unter die Lupe zu nehmen: «Man möchte, so wie es Brauch ist, gerne sagen, dass M. Pilet eine schwungvolle Rede hielt. Hélas! Schauen wir uns diesen schönen Schwung des sympathischen Bundesrats an.» Dann zitiert Neuhaus die Worte, die Pilet dem Winter widmete, und macht dazu in Klammer seine spöttischen Anmerkungen:

Das raue Vallée der kalten Januare (warum nicht warm!), die bittere Bise, die aufs Gesicht prasselt (oh! Ja). das Blut durchpeitscht (und wie!), den Schritt zur sicheren Wohnung beschleunigt. Stellen Sie sich diese Bise vor, die den Schritt zur sicheren Wohnung beschleunigt: welch bösartige Kreatur, allerdings!

Über Pilets Ode auf den waadtländischen Herbst spottet der Kritiker:

Die Lieder klingen fröhlich in den Reben, als ob die Winzer Glöcklein in ihren Kehlen hätten. Und, ausserordentliche Tatsache, die Freude lacht. (Oh ja, sie weint nicht.) Was den Tanz anbelangt, er dreht sich, auch etwas, das wir nicht wussten und das wir glücklich sind zu lernen. Kurz und gut: Das Leben hüpft aus den gezuckerten Bottichen. Welch Genuss!

Was hat doch Pilet zu Beginn seiner Rede gesagt? Um die unzähligen Schönheiten unseres Lands zu besingen, müsste man Dichter, Maler, Musiker sein. Hélas! Ich bin nichts von alledem. Ein völlig unnötiges Eingeständnis. M. Pilets Zuhörer haben dies selbstverständlich gemerkt. Aber wenn man weder Dichter, Musiker noch Maler ist, versucht man nicht Lyrik zu machen und den Mitbürgern den peinlichen Eindruck zu vermitteln, dass man den ersten Flugzeugen aus dem Jahre 1910 ähnelt, die kräftig brummten, ohne dass es den Maschinen je gelang, vom Boden abzuheben.

Ein Bundesrat brauche nicht Dichter, Musiker oder Maler zu sein, meint der Chefredaktor der Suisse libérale,es genüge, wenn er seine Barke gut lenke. Wenn es ihm allerdings eines Tages gelingen sollte, «die Tarife der SBB und diejenigen der Telefonabonnements sowie die Posttaxen ernsthaft zu senken, dann, ja dann, werden wir ihm seinen zärtlichen Frühling und seinen Goldbarren der Liebe gerne verzeihen».

Pilet bewahrt den schnippischen Artikel auf. Einzelne Stellen zeichnet er am Rande mit Rotstift an.


«Politiker wider Willen»

Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen  Wissens, seiner militärischen Kenntnisse  und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten  Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.


Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany

Beitrag vom 15.06.2025

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