30. Die Nachfolgefrage Aus «Politiker wider Willen»
Am letzten Augustwochenende 1928 reist Pilet mit einer parlamentarischen Kommission nach Heiden und am Montagmorgen, während der Vorsitzende sein Referat hält, schreibt er seiner Frau ein paar Zeilen:
Hübsche Reise und reizvolle Gegend, diese Ecke von Appenzell. Aber wie weit weg. Die Fahrt ist endlos. Zürich ist kaum auf halbem Weg. Vor allem ist es beinahe der Endpunkt der Schnellzüge. Von Rorschach am Ende des Bodan [Bodensees] klettert der Zug erschöpft auf engem Geleise grünende Wiesen hinauf. Die Wagen haben ein Oberdeck, von dem aus man auf allen Seiten eine prachtvolle Aussicht entdeckt.
Pilet geniesst den Blick auf die mit Tannen geschmückten Höhenkuppen, schattigen Obstgärten, die adretten Häuser – eine Mischung aus holländischen Hütten und Schweizer Chalets. Die Appenzeller haben ein mühevolles Leben, arbeiten viel, verdienen wenig. Sie sind sympathisch, kleinwüchsig, «mit lebhaftem Gang und liebenswürdig im Umgang. Überall wechselt man Grussworte.»
Am nächsten Tag fährt die Kommission im Autocar durch das «entzückende Appenzeller Land», das «nichts Grandioses, nichts Imposantes, nichts Majestätisches, nichts Erschreckendes» an sich hat. Die Bauernhäuser sind sauber, übertrieben sauber «wie neues Spielzeug», man wagt kaum einzutreten oder etwas zu berühren, aus Angst, es zu verschmutzen. Nicht nur die Menschen sind klein, auch die Kühe.
Am 9. September 1928 gibt Bundesrat Chuard am freisinnigen Parteitag in Biel seinen unwiderruflichen Rücktritt auf Ende Jahr bekannt. Pilet schickt seiner Frau einen Zeitungsausschnitt, in dem es heisst, die Nachfolgefrage sei am Kongress das Hauptgesprächsthema gewesen. Die Meinung sei gewesen, dass die Waadtländer Radikalen sich auf den Namen Maillefer einigen werden und dass diesem der Weg in den Bundesrat nicht mehr versperrt sein werde. Er habe «viel Wasser in seinen etwas sehr starken Wein gegossen und seine Meinung über die Deutschschweizer beträchtlich gemildert». Maillefer soll geneigt sein, sich für eine Amtszeit von drei Jahren zur Verfügung zu stellen.
Major Pilet fehlt am Kongress, er ist bereits im Militärdienst, zuerst im Generalstabskurs – Leiter Divisionär Ulrich Wille –, anschliessend Wiederholungskurs mit seinem Bataillon. «Ich fühle mich in Form für die Manöver.» Die Manöver sind in der Gegend seines Geburtsorts Cossonay.
Herbstsession 1928. In seinem Parlamentsbrief gesteht Marcel Pilet-Golaz ein, dass er, eben zurück aus dem Wiederholungskurs, gewisse Mühe gehabt habe, sich wieder an den Nationalrat zu gewöhnen:
Ein schönes Waadtländer Bataillon – schwungvoll, jung und diszipliniert – zu verlassen, um sich in einer heterogenen, müden und manchmal melodramatisch stürmischen Versammlung wiederzufinden: Der Sprung ist brüsk, der Übergang schmerzhaft.
Pilet schwärmt von der herrlichen Landschaft im Waadtländer Herzland – dem Gros de Vaud –, atmet in Gedanken noch einmal die «lebhaften Septemberlüfte der nebligen Felder» ein, «durchquert im fröhlichen Galopp der Pferde Wiesen und Brachland» und fällt dann mit einem Schlag zurück «ins Kunstlicht des Bundeshauses, um in seiner schweren Atmosphäre fast zu ersticken, im langsamen Rhythmus der Wahlreden stecken zu bleiben, das ist schwer, sehr schwer».
Die Nationalratswahlen stehen vor der Tür. Pilet ist nicht sicher, ob er wiedergewählt wird – oder ob er überhaupt noch einmal antreten will:
Meine Schubladen in Bern sind leer; die Schlüssel unter der Türvorlage. Man wird ohne mich gut leben können. Ich würde jedoch wahrhaftig bedauern, wenn ich meine parlamentarischen Plaudereien mit euch aufgeben müsste. Diese machen mir viel Spass und es würde mich freuen, wenn der Spass geteilt wird. Doch es ist Zeit, uns zu verlassen. Auf Wiedersehen, lieber Leser, oder adieu! Chi lo sa?
Am 25. September stellt er spätabends seinen Bericht über die Enteignung fertig. Am nächsten Tag muss er am Morgen und am Nachmittag referieren. Am Mittag ist er Gast bei Schulthess, isst kaum etwas. Er ist erkältet, schnäuzt sich, hustet und spuckt. «Bien en forme, le dauphin?», fragt der Bundesrat ihn spöttisch. Es ist ihm egal, wie er seiner Petite Tillon chérie schreibt. Die Politik lasse ihn gleichgültig. Die Intrigen in der Waadtländer Politik seien ihm zuwider. Wenn sein Freund Louis Chamorel zurücktrete, werde auch er gehen.
Das Freimaurer-Triumvirat Maillefer, Bosset, Chaudet will nach eigenem Gutdünken führen und ich bin entschlossen, nicht ein Hampelmann in ihrer Hand zu sein. Hier herrscht ein Schlamassel. Bei den Waadtländer Radikalen murrt alles, ist beunruhigt und entmutigt. Eine schöne Vorbereitung ist das auf den Sieg [bei den bevorstehenden Wahlen]! Ich ärgere mich nicht; übrigens habe ich den Eindruck, dass der Abszess noch diese Woche aufgestochen wird und dass Chamorel das Skalpell führen wird. Wir haben gestern Abend lange in seinem Zimmer mit Pitton, Fazan und Henry diskutiert.
Die radikale Waadtländer Abordnung in Bern ist demnach gespalten. Auf der einen Seite Parteipräsident Maillefer, der einflussreiche Staats- und Ständerat Norbert Bosset und der nicht dem Parlament angehörende junge Parteisekretär Gustave Chaudet. Auf der anderen Seite die Nationalräte Pitton, Fazan, Vallotton und Pilet. Die Uneinigkeit rührt auch daher, dass der grosse alte Mann, der 72-jährige Emile Gaudard, der bisher in Bern seine Delegation mit eiserner Hand geführt hat, sich zurückzieht. «Kann die Waadtländer radikale Abordnung ihren Kompass wiederfinden, nachdem sie ihren Nordpol verloren hat?», fragt sich Grellet in der Gazette:
Was wird aus ihr ohne ihren grand électeur? Ohne Erzbischof von Reims zu sein, hat er manchen republikanischen König gekrönt, nachdem er ihn zuerst geheimen Herzens ausgelesen und dann dank den geschickten Kunstgriffen seines politischen Geistes hat wählen lassen.
Am Mittwoch steht Pilet als Referent für das Enteignungsgesetz am Rednerpult des Nationalrats und muss mehrfach intervenieren. Er glaubt sagen zu können, dass er «sich nicht allzu schlecht aus der Affäre gezogen» hat. Bei den Waadtländer Radikalen hat sich die Lage glücklicherweise beruhigt, wie er Tillon schreibt:
Simon unterbreitet mir ein Briefprojekt; Pitton lässt mich einen Nachrufartikel korrigieren; Chamorel übergibt mir ein Militärdossier; Fazan will von mir einen Artikel zur Abstimmung vom Sonntag und redet mit mir über die Anleihe; Henry unterbricht mich mit ständigen Spässen und Neuigkeiten betreffend den Bundesrat.
Die Nachfolge Chuard ist zur Mittagszeit am Samstag, 29. September 1928, Gegenstand einer Sondersitzung der radikalen Waadtländer Nationalräte. Ort der Handlung: das Bundesratszimmer. Vallotton hat das Treffen angeregt. Anwesend sind Bundesrat Chuard, Maillefer, Fazan, Pilet, Grobet, Pitton, Vallotton, Chamorel. Alles Stützen der Gesellschaft: vier begüterte Landwirte, ein erfolgreicher Unternehmer, zwei geachtete Professoren, zwei renommierte Anwälte. Drei sind in der Armee Oberst, zwei Major. Protokollführer ist Chamorel, genannt le colonel, einer von Pilets besten persönlichen Freunden.
Vallotton möchte die möglichen Kandidaturen – Maillefer, Porchet, Pilet – «in aller Unvoreingenommenheit» sichten. Was ihn selber betreffe, sei er, obwohl von einigen Ratsmitgliedern dazu gedrängt, «in keinem Fall Kandidat für den Bundesrat ». Gerüchteweise veranlasst ihn die Scheidung von Blanche Warnery, deren Vermögen seinen politischen Aufstieg begünstigt hatte, vorläufig auf eine Kandidatur zu verzichten.
Aus seinen Gesprächen mit einflussreichen Nationalräten der verschiedenen Parteien hat Vallotton den Eindruck gewonnen, dass Porchet zweifellos gewählt würde. Hingegen halte man Maillefer für zu alt. Die Kandidatur Pilet, die in einigen Kreisen gut aufgenommen werde, stosse wegen dessen jungen Alters auf Vorbehalte. Wenn man Maillefer oder Pilet vorschlage, gehe man das Risiko ein, dass ein anderer welscher Kanton einen Gegenkandidaten aufstelle.
Maillefer beruhigt Vallotton. Er nehme keine Kandidatur an. Dies aus Gründen der Gesundheit, des Alters, der Familie und persönlicher Natur. 1919 sei er von den Räten desavouiert worden. Man habe ihm den Dolch in den Rücken gestossen. Auch wenn die Situation heute anders liege, ziehe er sich zurück: «Ein Mann von Herz kann diesen Versuch nicht zweimal wagen.»
Bundesrat Chuard beschwört die Abordnung, sich auf einen «einzigen und denselben » Kandidaten zu verständigen. Die Waadt müsse unbedingt das Privileg eines Sitzes im Bundesrat behalten. Pilet erklärt, er habe die Kandidatur nicht gesucht, sei nicht Kandidat. Für Chamorel gibt es nur eine Lösung: Porchet. Die andern pflichten ihm bei. Vallotton schlägt vor, sofort bei Porchet vorstellig zu werden, damit dieser eine Kandidatur annehme.
Tags darauf spricht die Delegation bei Porchet vor. Der mächtige Staatsrat, der nie daran gedacht hat, von Lausanne nach Bern zu wechseln, ist auf den Schritt seiner Parteifreunde vorbereitet. Er dankt für die grosse Ehre und legt die Gründe für seinen ablehnenden Entscheid dar. Dann liest er den Anwesenden eine bereits abgefasste Erklärung vor:
Im höheren Interesse der Schweiz ist es notwendig, die Tradition der Mitarbeit eines Waadtländers bei der Tätigkeit des Bundesrats aufrechtzuerhalten. Unter den Bürgern, die als eventuelle Nachfolger von M. Bundesrat Chuard genannt wurden, bin ich nach bestem Wissen und Gewissen der Ansicht, dass Nationalrat Pilet-Golaz der Qualifizierteste ist.
Porchets Parteikollegen wollen sich nicht mit seinem Entscheid abfinden. Pilet versucht anlässlich eines «langen Spaziergangs in Vidy» am Seeufer «mit allem, was meine respektvolle Freundschaft an Dringlichkeit erlaubte», ein letztes Mal Porchet umzustimmen. Vergeblich.
Bei den Wahlen vom 28. Oktober kommt es nicht zu dem erwarteten starken Linksrutsch. In der Waadt bleibt die Sitzverteilung unverändert: 8 Radikale, 4 Sozialdemokraten, 2 Liberale und 2 Agrarier im Nationalrat, 2 Radikale im Ständerat. Pilet-Golaz wird mit einer guten Stimmenzahl auf Platz vier der radikalen Liste wiedergewählt, hinter den altgedienten Maillefer und Fazan, auch ganz knapp hinter seinem Freund Vallotton.
Am 5. November sprechen die acht radikalen Waadtländer Nationalräte und die Ständeräte Bosset und Dind erneut bei Porchet vor, um ihn zur Annahme der Bundesratskandidatur zu drängen. Unbeeindruckt liest der Staatsrat zuhanden der drei seit den Wahlen neu dazugestossenen Nationalräte noch einmal seine Erklärung vom 30. September vor. Dazu habe er kein Wort beizufügen. Knirschend muss sich die Delegation mit seinem «weiterhin unwiderruflichen Entscheid» abfinden. Sie beschliesst einstimmig, die Kandidatur von Nationalrat Pilet-Golaz zu präsentieren. » Porchet locutus, causa finita.
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Nach einer Bedenkzeit von drei Tagen teilt Pilet der Waadtländer Parteiführung brieflich mit, dass er die Nomination als Bundesratskandidat annimmt. Seine Aufstellung als Bundesratskandidat ist – wie Vallotton und andere vorausgesagt haben – nicht unumstritten. Klar, dass die Sozialdemokraten den «Reaktionär» Pilet, nicht wählen werden. Aber auch im bürgerlichen Lager gibt es Vorbehalte. Hat das Gewohnheitsrecht, das den drei grossen Kantonen Zürich, Bern und Waadt einen Sitz in der Landesregierung zugesteht, nicht ausgedient? Ist der junge unerfahrene Pilet wirklich die beste Wahl?
Die Mitglieder der Waadtländer radikalen Abordnung werben für ihren Kandidaten. Die Reaktion ist ermutigend. Der mächtige Aargauer Parteipräsident Emil Keller schreibt Vallotton:
Ich freue mich, Dir mitteilen zu können, dass die Stimmung bei uns für die Bundesratskandidatur des Herrn Pilet durchaus günstig ist, sowohl bei den Nationalräten der bürgerlichen Parteien als bei den beiden Ständeräten. Was mich persönlich anbetrifft, so werde ich aus Überzeugung für Herrn Pilet stimmen. Wir werden mit ihm einen guten Bundesrat bekommen, eine junge tüchtige Kraft. Das tut not.
Am Montag, 3. Dezember 1928, beginnt die neue dreijährige Legislaturperiode. Lettres du Parlement:
Selbstbewusste Gesichter der Habitués, schüchterne oder neugierige Blicke der «Rekruten ». Ununterbrochenes Redegemurmel. Händedrücke, Glückwünsche, Komplimente, gegenseitiges Sichvorstellen. Die Alten zeigen den Neuen das Haus und begleiten sie mit beschützender Miene, auch wenn sie selber erst eine Legislatur und weniger Frühlinge hinter sich haben als diese. Sie geben ihnen Erklärungen, die vielleicht gar nicht erwünscht sind.
Doch die jungen Kollegen sind zu höflich, um auch nur die geringste Ungeduld zu zeigen. Sie hören zu, nicken, danken und setzen sich brav auf den Sitzen nieder. Den ach so begehrten Sitzen, wie gewisse Leute behaupten. Sehr bald werden sich die Neuen wohlfühlen und als alteingesessene Parlamentarier gebärden. Enttäuschungen werden dazu beitragen, dass sie bald nichts mehr von den Älteren mit ihrer abwechslungsweise autoritären und desillusionierten Haltung unterscheiden wird.
Niemand würde aus der Lektüre von Pilets Parlamentschronik erraten, dass in den Wandelgängen die bevorstehende Bundesratsersatzwahl und seine eigene Kandidatur das Hauptgesprächsthema sind.
Am Abend schreibt er wie üblich seiner Frau. Die Bauernfraktion sei im Prinzip einverstanden, ihn zu wählen, aber zwei Waadtländer Nationalräte verlangten von den Radikalen Zugeständnisse in der kantonalen Agrarpolitik. «Wir sind entschlossen, keine Verpflichtungen einzugehen und persönlich will ich mich keiner Bedingung unterziehen.» Fröhliches Mittagessen mit den Waadtländer Radikalen. Die Kollegen scheinen sicher, dass Pilet gewählt wird, seiner Meinung nach «viel zu sicher».
Zahlreiche confédérés drücken mir die Hand und bekunden mir ihre Sympathie. Ich versuche, so natürlich wie möglich zu bleiben. Motta ist gekommen und hat mich mit ganz südländischen Gefühlsausbrüchen begrüsst.
In seiner Samstagschronik schreibt Pilet zur Wahl von Heinrich Walther als Nationalratspräsident:
Glänzende Wahl, und wie sehr verdient! Sie wäre möglicherweise noch schöner ausgefallen, wenn sie eine Woche später stattgefunden hätte: Alle Abgeordneten konnten nämlich in der Zwischenzeit die Meisterschaft – dies ist das richtige Wort – bewundern, mit der er die Debatten führt.
Ahnt Pilet, dass Walther, den man den «Königsmacher» nennt, für seine Kandidatur die Fäden zieht? In der kurzen Zeit, in der Pilet im Rat sitzt, ist der Neuling dem mächtigen Fraktionsführer der Katholisch-Konservativen kaum aufgefallen. Anders verhält es sich mit Walthers engem Vertrauten Franz von Ernst, dem Bundeshauskorrespondenten der Parteizeitung Vaterland, der schreibt:
Die Klassifizierung der Kandidatur Pilet als «zweite Garnitur» oder gar dritte wird deshalb nicht richtiger, weil sie von nichtqualifizierter Seite erhoben wird. Uns scheint, es sei ganz und gar nicht zuungunsten Pilets zu deuten, wenn er während der ersten drei Jahre Mitgliedschaft im Nationalrat sein Licht nicht so auffällig leuchten liess, dass sein Ehrgeiz oder sein Selbstbewusstsein offenbar geworden wären. Wo es am Platz war, hat er sich zu Wort gemeldet und dabei in allen Kreisen des Parlamentes den Eindruck einer guten juristischen Bildung, einer wohlvorbereiteten Sachkenntnis und einer hervorragenden Rednerbegabung erzielt.
In seinen nach seinem Rücktritt aus dem Nationalrat abgefassten Erinnerungen erzählt Walther, dass es «mein Freund und Berater» von Ernst war, der ihn auf Pilet aufmerksam machte:
Herr von Ernst, ein vorzüglicher Menschenkenner, war der bestimmten Ansicht, dass sich Herr Dr. Pilet in vorzüglicher Weise als Bundesrat eigne. Für die Katholiken wäre seine Wahl besonders günstig, da er Gegner jeder Kulturkämpferei sei. Von Ernsts Freund Pierre Grellet, der bekannte, hoch angesehene Berner Redaktor der liberalen «Gazette de Lausanne», teile diese Meinung, obwohl er nicht der gleichen Partei wie Pilet angehöre. Gestützt auf diese beiden Gewährsmänner machte ich bei unsern Leuten Stimmung für Pilet und suchte unsere welschen Fraktionsmitglieder zu veranlassen, auch bei den freisinnigen Welschen im gleichen Sinn zu wirken.
Am Dienstag, 11. Dezember 1928, gibt der Luzerner Stadtpräsident Zimmerli an der Vorstandssitzung der freisinnigen Fraktion zu bedenken, dass eine «Niederlage der Kandidatur Pilets im Kanton Waadt und auf die schweizerische Freisinnig-Demokratische Partei eine ungünstige Wirkung haben» würde. Maillefer erklärt, dass der Kanton Waadt selten oder nie so einmütig gewesen sei wie heute. Nationalrat Pilet habe überall sein Bestes gegeben: Im Grossen Rat, wo er als Referent die Steuergesetzrevision durchbrachte, als Rechtsberater der Regierung, als Präsident der Steuerrekurskommission, als öffentlicher Redner, der im Volk Anklang und Verständnis findet.
Der Präsident der Freisinnig-Demokratischen Partei der Schweiz, Nationalrat und NZZ-Chefredaktor Albert Meyer, der ein Jahr später Bundesrat wird, würdigt mit warmen Worten «die Gediegenheit und den Weitblick» des Waadtländer Kandidaten. Die Kandidatur Pilet wird vom Vorstand und tags darauf auch von der Gesamtfraktion mit «lückenloser Einstimmigkeit» gutgeheissen.
Wie angesichts der klaren Haltung Walthers nicht anders zu erwarten ist, spricht sich die konservative Fraktion ebenfalls einstimmig für Pilet aus, allerdings bei «mehreren Enthaltungen.»
Harziger verläuft die Diskussion bei der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei. Gemäss Léon Nicole habe die Fraktion anfänglich gegen die Kandidatur Pilet aufzumucken versucht:
Dann wurden ihre Männer der ersten Garnitur einer nach dem andern bearbeitet – cuisiné –, und man sagt, dass M. Minger, ihr Chef, für gewisse Versprechen für später keineswegs unempfänglich war … wenn Herr Scheurer sich müde fühlen wird, was, wie es scheint, nicht lange auf sich warten lassen wird.
Neben der Aussicht, dass die Freisinnigen bäuerliches Wohlverhalten demnächst mit einem Bundesratssitz für Minger belohnen könnten, sprechen aber auch andere Argumente für Pilet. Kein Geringerer als der unbestrittene Führer der Schweizer Bauern, Prof. Ernst Laur, fasst sie zusammen:
Alles, was man von ihm hört, bestätigt, dass er ein hervorragender Mann ist, der würdig und fähig ist, diese hohe Stellung einzunehmen. Er hat an der waadtländischen landwirtschaftlichen Schule den Unterricht in Rechtslehre erteilt und seine Kollegen heben sein Verständnis für landwirtschaftliche Fragen hervor. Er stand im Kampf um das Getreidemonopol in vorderster Linie. Wir haben zudem das grösste Interesse, dass der bäuerliche Kanton Waadt im Bundesrat vertreten ist.
- Jeweils sonntags wird der Roman «Politiker wider Willen. Schöngeist und Pflichtmensch» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
- Fotos und Dokumente zum Buch
- Diese Kapitel sind bereits erschienen
«Politiker wider Willen»
Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen Wissens, seiner militärischen Kenntnisse und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.
«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.
Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch
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Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany