27. Schwanengesang einer historischen Figur Aus «Politiker wider Willen»
Anders tönt es aus der linken Ecke. Der Journalist Paul Golay, der gleichzeitig mit Pilet in den Nationalrat gewählt worden ist, widmet im sozialistischen Droit du Peuple dem ersten Auftritt seines Kollegen einen Artikel mit dem Titel: «Der Einstand und die Ideen des Dauphin». Ironisierend gesteht Golay dem «ehrenwerten M. Pilet-Golaz» unstrittige Gaben zu, die «seine Freunde durch die Gänge hinausposaunen, in denen sich die Richtung der günstigen Winde entscheidet». Pilet, so Golay, sei in dem Sinn ein Redner, als seine Sätze korrekt, seine Vortragsweise angenehm, seine Dialektik knapp, sehr geschmeidig und sehr geschickt sei. Ein Gerichtspräsident habe einmal vom Advokaten Pilet gesagt: «Er ist zu intelligent.» Maliziös bemerkt Golay dazu: «Vielleicht. Aber wer es zu sehr ist, kann es auch verstecken.»
Golay zeichnet dann ein Bild seines Grossrats- und Nationalratskollegen, das nicht unzutreffend ist:
M. Pilet ist ein Vernunftmensch, kein Warmherziger. Ein Dialektiker, kein Wohlwollender. Er hat Sinn für Recht und Ordnung. Aber es fehlt ihm der Sinn für die Unwägbarkeiten, für dieses gewisse Etwas, das von der Intelligenz zum Herzen geht, dort erwacht und sich mit Leben füllt. Er kann notfalls bewegen, aber dank seines Talents, nicht aus einem spontanen Schwung heraus.
Ein anderer sozialistischer Nationalrat und Journalist, der Geschäftsleiter der Sentinelle Charles Naine reagiert auf Pilets Einstand nicht in der Zeitung, sondern ein paar Tage später im Ratsaal. Ursprünglich Uhrmacher, dann Anwalt und Redaktor, übt der in La Chaux-de-Fonds tätige Naine einen starken Einfluss auf die Arbeiterschaft in der Romandie aus. 1903 wurde er als Dienstverweigerer verurteilt und als Pazifist aus der Armee ausgeschlossen. 1910 holten die Waadtländer Sozialisten den begabten Organisator und Zeitungsschreiber nach Lausanne, wo er in der Partei bald die Führung übernahm. Als 1924 der revolutionären linke Waadtländer Parteiflügel gegen den überzeugten Demokraten Naine putschte, zog sich dieser nach La Chaux-de-Fonds zurück und tauschte sein waadtländisches Nationalratsmandat gegen ein neuenburgisches ein.
Der vielseitig gebildete Naine hat umfassendes Wissen über den Sozialismus, ist als Jurassier mit dem dort verwurzelten Anarchismus und Syndikalismus vertraut, kennt, teils aus eigenen Begegnungen, führende Gestalten des europäischen Sozialismus wie Bebel, Liebknecht, Jaurès oder Turati. Er war mit Lenin und Grimm in Zimmerwald, verteidigte als Anwalt die welschen Sozialisten im Generalstreikprozess. Charles Naine redet und schreibt klar, ist mit seinen 52 Jahren schon so etwas wie ein weiser alter Mann. Eine historische Figur.
Und dieser charismatische Arbeiterführer nimmt sich jetzt Pilet vor, indem er vorerst ausführlich die Gazette de Lausanne zitiert – «die, wie Sie wissen, eine exzellente waadtländische Zeitung ist». Er liest die Stelle vor, an der sein Journalistenkollege Grellet über die «Geburt des Dauphins» gewitzelt hat. Damit gelingt es Naine, einen Saal, der sonst wenig zu lachen hat, aufzuheitern. Auf der Journalistentribüne freut sich Grellet, dass «jedes von den erhabenen Lippen der Volksvertreter fallende Wort» für das amtliche Bulletin der Bundesversammlung «religiös stenografiert wird». Demnach werde die Lektüre seiner eigenen Sätze in diesem «faden Dokument vielleicht eines Tages irgend einen Forscher amüsieren». Was in mindestens einem Fall, nämlich hier, geschehen ist.
Dann wird der Jurist Naine ernst und «bringt M. Pilet-Golaz die Ehre meines Widerspruchs». Er zerpflückt dessen Rede.
Naine weiss, was ein Streik ist, nicht weil er im Wörterbuch nachgeschaut hat, sondern weil er «eine beträchtliche Anzahl gesehen und daran teilgenommen» hat. Für ihn ist der Streik «die kollektive und abgesprochene Einstellung der Arbeit während einer gewissen Zeit». Pilet gehe von der Annahme aus, dass der Streik eine Vertrags- oder Übereinkunftsverletzung darstelle und dass es deshalb das Streikrecht nicht gebe. Falsch, antwortet ihm Naine. Natürlich könne es Streiks geben, die einen Vertrag verletzen, aber dann seien Sanktionen die Folge. So im Fall der jurassischen, ohne Vorwarnung in den Streik getretenen Uhrengehäusemonteure, die von den Geschworenen verurteilt wurden – «was, wie ich glaube, vom juristischen Standpunkt aus völlig korrekt war».
Ist der Streik nicht gestattet, weil die Verfassung das Streikrecht nicht direkt erwähnt? Vieles steht nicht in der Verfassung, sagt Naine, und wir tun es trotzdem: Das Recht zu atmen, das Recht zu lachen. Wie er selbst, seien viele andere Juristen der Meinung, das Streikrecht leite sich aus der Vereins- und Versammlungsfreiheit ab. Dazu zitiert Naine einen Bundesgerichtsentscheid: «Damit die Versammlungsfreiheit überhaupt eine Wirkung haben kann, ist es unabdingbar, dass die vereinigten Arbeiter dem Arbeitgeber mit der kollektiven Arbeitsniederlegung drohen können.»
Wenn also das Streikrecht existiere, wieso sollte es für die Beamten nicht existieren? Es sei klar, sagt Naine, dass ein Streik der Postbeamten oder der Eisenbahner das Wirtschaftsleben einer Nation schwer beeinträchtigen kann. Aber angesichts der zunehmenden Arbeitsteilung und Interdependenz der Wirtschaftszweige könne beispielsweise auch eine Aktion der Hochfinanz die Wirtschaft eines Landes lahmlegen.
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Pilet rechtfertige das Streikverbot für Beamte damit, dass die Staatsangestellten aufgrund eines Reglements, eines Gesetzes angestellt würden. Jedem stehe es frei, eine Staatsstelle anzunehmen oder nicht. Es könne weder Diskussionen noch Streiks geben. Pilet behaupte, dass der Staat nicht mit den Beamten diskutiere, dass das Beamtengesetz nicht das Ergebnis einer Diskussion zwischen zwei Parteien sei. Falsch, sagt Naine:
Der Beweis, dass der Staat diskutiert, ist, dass er dies in einem gewissen Sinn schon getan hat: Er hat die Vertreter der Beamten angehört; er hört ihnen hier im Parlament zu und trägt der Meinung dieser Vertreter bis zu einem gewissen Grad Rechnung. Wieso sollte der Staat dies nicht tun?
Wenn der Staat einen Kredit aufnehme, müsse er auch mit den Bankiers verhandeln.
Wieso wollen Sie, dass der Staat mit den Bankiers diskutiert, aber nicht mit den Lohnempfängern? Meist sind die Bankiers nur eine Handvoll, die Lohnempfänger sind 70 000.
Artikel 4 der Bundesverfassung sagt: «Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich.» Ein guter Artikel, meint Naine:
Wenn Sie, Messieurs de la bourgeoise, ihn neu formulieren müssten, könnten Sie es meiner Meinung nach nicht so gut. Ihre Vorfahren und unsere – damals vermischte sich dies – haben ihn geschaffen. Und sie haben keine Ausnahme vorgesehen.
Nun wolle das Parlament diesen Grundsatz umstossen. 70 000 Beamte sollten nun auf einen Teil ihrer Bürgerrechte verzichten? Man könne noch so viele Juristen zitieren, um diese neue Theorie des Streikverbots zu rechtfertigen, das Parlament dürfe nicht einfach tun, was es wolle.
Man kann nicht der Argumentation von M. Pilet-Golaz folgen, ohne die Verfassung zu verletzen, ohne die Prinzipien der Gleichheit, auf denen unsere Gesellschaft fusst, umzustossen.
Weil Streiks tatsächlich die Interessen des Landes schwer gefährden können, was tun? Kann der Kampf zwischen Interessengruppen dadurch verhindert werden, dass das Sozial- und Wirtschaftsleben von der Mehrheit diktatorisch geregelt wird? Wie im Süden der Alpen?
Glauben Sie, dass man in der Schweiz die Gesellschaft auf dieser Basis organisieren kann? Glauben Sie, dass Sie Hunderttausende schweizerische Individuen, Schweizer aus Tradition, Schweizer aus Gewohnheit, eingefleischte Demokraten unter ein solches Regime zwingen können – ein Regime, das sich übrigens noch nicht bewährt hat. Non, messieurs, wir glauben es nicht.
Naine sieht die Lösung des Streikproblems in kollektiven Arbeitsverträgen. Man solle sich an Amerika mit seinen immer harmonischer werdenden Beziehungen in der Arbeitswelt orientieren. Das Vermeiden von Arbeitskämpfen nütze allen: höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit, grösserer Reichtum für die Kapitalisten.
Die Arbeiter, schliesst Naine seine Rede, hielten am Streikrecht fest. Solange es keine bessere Lösung von Konflikten gebe. Naine weiss aber auch, wie kostspielig, wie beklagenswert die Auswirkungen von Streiks seien, welchen Scherbenhaufen sie bei Arbeitern und Arbeitgebern hinterliessen. Der Streik sei ein grobes, rudimentäres Mittel, um Konflikte zu beenden, und er hoffe, dass man ihn mit der Zeit abschaffen könne.
Aber wir schaffen ihn nicht durch die Gewalt ab; wir schaffen ihn durch die Verständigung ab und nicht indem wir dem Weg folgen, auf den uns M. Pilet-Golaz und andere uns verpflichten wollen.
Charles Naine hat am Anfang seines beeindruckenden Exposés den Kollegen Pilet- Golaz nicht ohne Ironie darauf hingewiesen, dass es den grossen Staatsmännern ein wenig wie den Generälen gehe, sie wüchsen an ihren Gegnern. Vergleicht man heute die Reden der beiden Nationalräte aus historischer Sicht, hatte Naine die schlüssigeren Argumente, auch wenn Pilet es war, der von den bürgerlichen Parlamentariern und ihrer Presse gefeiert wurde. Naines Vision eines Arbeitsfriedens ist später in Erfüllung gegangen.
Für Charles Naine ist das aus seinem tiefsten Innern kommende Plädoyer für das Streikrecht seine letzte Rede unter der Bundeskuppel. Am sozialistischen Parteitag im November widersetzt er sich einem Antrag des Genossen Grimm, der am Klassenkampf und der Diktatur des Proletariats festhalten will. Naine plädiert für die Demokratie und demokratische Kampfmethoden. Einmal mehr unterliegt er. Am Tag vor Weihnachten verlässt er, an Grippe erkrankt, vorzeitig den Nationalrat, nimmt aber an einer Weihnachtsfeier bei einem Freund teil, an der er sich mit einem von seinen politischen Gegnern versöhnt. Auf dem nächtlichen Fussmarsch zu seinem Heim im waadtländischen Préverenges zieht er sich eine Lungenentzündung zu. Er stirbt am 29. Dezember 1926.
- Jeweils sonntags wird der Roman «Politiker wider Willen. Schöngeist und Pflichtmensch» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
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«Politiker wider Willen»
Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen Wissens, seiner militärischen Kenntnisse und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.
«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.
Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch
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Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany