26. Der Dauphin ist gefunden Aus «Politiker wider Willen»

Das weitaus wichtigste Traktandum im Jahr 1926 ist das Beamtengesetz, das erstmals Rechte und Pflichten der Staatsangestellten umfassend ordnen soll.

In der Revue verkündet Pilet seine Meinung zur Vorlage: Staatsangestellte haben eine schwierige Aufgabe und erfüllen diese gewissenhaft und treu. Wenn man den Sozialisten zuhöre, müsse man allerdings glauben, unseren Beamten gehe es schlecht, sie seien «Opfer», die unter der Last der Arbeit zusammenbrächen und die Freuden des Lebens nicht geniessen könnten. Solch «lächerliche Übertreibungen» seien nicht ernst zu nehmen. Wieso sonst meldeten sich denn Hunderte für jede Beamtenstelle? Das Land brauche fähige Beamte, die gerne arbeiteten und anständig bezahlt würden. Wie man dies erreichen könne, sei die wahre, die einzige Frage. Alles andere sei Geschwätz.

Zum Streikverbot, dem umstrittensten Punkt im Beamtengesetz, hat Pilet eine klare Meinung:

Meine Leser werden mir verzeihen, aber bei all meinen Befürchtungen, als Reaktionär zu gelten und die Jupiterblitze der extremen Linken auszulösen, habe ich nie begreifen können, dass man von einem «Recht» auf Streik spricht; mein bourgeoises Gehirn verweigert sich, es ist unvollkommen.

Das Streikverbot für Beamte – Artikel 22 – kommt in der Junisession zur Sprache. Die beiden wohl mächtigsten Gewerkschaftsführer des Landes, Robert Bratschi, Präsident des Föderativverbands, und Konrad Ilg, Zentralpräsident des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiter-Verbandes, verlangen die ersatzlose Streichung des Artikels. Solange im Wirtschaftsleben das Faustrecht gilt, bleibt für Bratschi der Streik für die Arbeiterschaft ein nötiges Kampfmittel: «Der Krieg kann eben nicht dadurch beseitigt werden, dass eine Partei wehrlos gemacht und entwaffnet wird.» Ein Streikverbot zeige das Misstrauen des Bundesrats gegenüber seinem Personal, was dazu führe, dass das Personal den Behörden auch kein Vertrauen schenken werde. Artikel 22 sei «kein Element der Ruhe, sondern ein Element der Unruhe».

Ilg vermutet, dass sich «dieser Artikel 22 nur auf den Generalstreik» beziehe: «Im Jahre 1918, da waren doch ganz besondere Verhältnisse vorhanden, denken Sie doch alle an die revolutionären Erhebungen, an all die Not, das Elend, die Rationierung. » Sollten solche Verhältnisse wiederkehren, böte auch dieser Artikel keinen Schutzwall.

Nach den beiden Tenören der Arbeiterbewegung ergreift Ratsneuling Pilet-Golaz das Wort. Vier Monate nach Freund Henry Vallotton hält er seine Jungfernrede – zu einem Thema, das ihm am Herzen liegt und von dem er etwas versteht. «Gibt es das Streikrecht?», fragt er und antwortet: «Nicht, dass ich wüsste.» Die Pflicht, eingegangene Verträge zu halten, sei eine fundamentale Vorschrift des Zivilrechts und eines der wesentlichen Prinzipien, auf denen die öffentliche Ordnung beruht. Aber selbst diejenigen, die in der Frage eines Streikrechts anderer Meinung seien, müssten zugeben, dass «die Situation der Angestellten und Arbeiter in Privatunternehmen und diejenige der Beamten nicht identisch ist».

Ein Arbeitsvertrag der Angestellten in der Privatwirtschaft ist das Ergebnis von Diskussionen mit dem Arbeitgeber, während die Anstellungsbedingungen der Beamten gesetzlich geregelt sind. Und diese Regeln sind nicht das Ergebnis einer Vereinbarung, eines Kompromisses zwischen entgegengesetzten Interessen; sie werden vom allgemeinen Interesse diktiert. Wenn der Staat eine Dienstleistung übernimmt, dann tut er dies, weil er diese für die Gemeinschaft für wesentlich hält. Die Unterbrechung einer dieser Dienstleistungen gefährdet die Sicherheit des Staats. Die Beamten sind dazu da, die öffentlichen Dienste sicherzustellen; in keinem Fall dürfen diese Dienste zu funktionieren aufhören, folglich dürfen Beamte nicht streiken.

Gerade weil man in unsere Beamten Vertrauen habe, müsse man klar reden:

Wir können uns nicht vorstellen, dass sie streiken: Verkünden wir dies also laut und deutlich. Die Beamten werden die Letzten sein, die sich darüber beklagen, denn in ihrer grossen Mehrheit sind sie keine Anhänger von Streiks. Ich spreche selbstverständlich von denjenigen, die ich bei uns sehe. 1918 haben unsere Pöstler nicht gestreikt, und wenn unsere Lokomotivführer in jenem Augenblick nicht grossteils ins französische Eisenbahnnetz abdetachiert gewesen wären, bin ich überzeugt, dass auch unsere Eisenbahner dem Streikbefehl nicht gehorcht hätten. (Mit Zwischenrufen bestreiten dies sozialistische Parlamentarier.)

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Pilet beendet seine Rede mit einem eindringlichen Aufruf:

Ein Beamtenstreik ist mehr als eine Gehorsamsverweigerung – er ist ein Aufstand. Wer setzt bei uns das Beamtengesetz fest, wenn nicht die Nation! Und man versteht nicht, dass eine Minderheit sich gegen den Souverän auflehnt. Dies wäre ein Verzicht auf unsere Traditionen, eine Absage an unsere demokratischen Institutionen. Die Beamten würden darin ein Zeichen der Schwäche erblicken und das Volk würde dies nicht verzeihen. Indem wir für den Artikel 22 stimmen – und davon bin ich überzeugt –, befinden wir uns in völliger Übereinstimmung mit der grossen Mehrheit der öffentlichen Meinung.

Für einmal hat der Saal einem Redner zugehört. Bundesrat Musy findet die Rede remarquable. Pierre Grellet, der Pilet ein halbes Jahr zuvor noch verhöhnt hat, ist recht beeindruckt. Mit seinem üblichen trockenen Humor beschreibt er den Auftritt des «neuen Waadtländer Abgeordneten, auf dem derart grosse Hoffnungen ruhen», und der «die Koketterie oder das Geschick» gehabt habe, «auf sich warten zu lassen». Wie die grossen Strategen habe er «sein Terrain und seine Stunde» klug gewählt. Pilets erste «Wortschlacht» vergleicht Grellet halb spöttisch, halb ernst, mit Bonapartes kühnem Brückenübergang, als dieser 1796 bei Arcole die Österreicher besiegte.

Hier ist er, Fahne in der Hand, auf dem Ufer des Sieges: Die Sache wurde glänzend aufgezogen. Rede voller Schwung, Entschlossenheit, Klarheit, eine Intervention, die sehr beachtet wurde und die in der Debatte eine markante Rolle spielen wird. Der Redner setzt sich unter schmeichelndem Gemurmel. Von verschiedenen Seiten schreitet man auf ihn zu. Von seinem Fraktionschef M. Calame erhält er die Investitur in Form einer Akkolade. So ist es, wenn die Altgedienten auf ihre Dienstjünger zukommen, um sie nach dem Sieg umarmen. M. Gaudard selbst bequemt sich, seine Bank zu verlassen, auf dem er seit dreissig Jahren verkrustet ist, um dem jungen Triumphator auf die Schulter zu klopfen. M. Dind ist aus dem Ständerat herbeigeeilt und M. Maillefer tritt heran, die eine Hand offen, die andere ein Taschentuch zusammendrückend. Der Moment ist ergreifend und – zögern wir nicht, es zu sagen – historisch. Ein Dauphin ist uns geboren.

Auch in Genf hat man den Auftritt Pilets beachtet. Im Journal schreibt René Payot von einem «sehr brillanten Début»: Der vorzügliche Jurist M. Pilet ist ein prägnanter und nüchterner Redner. Es ist selten, dass ein neuer Abgeordneter sich auf Anhieb durchsetzt. M. Pilet machte da eine Ausnahme und seine Waadtländer Kollegen, für die er eine kostbare Verstärkung bedeutet, müssen sich nicht mehr beunruhigt fragen, was geschehen könnte, wenn M. Chuard einmal den Bundesrat verlässt. Der Dauphin ist gefunden. Wünschen wir, dass die Begleitumstände – diese wertvollen Hilfen der Politiker – es ihm erlauben werden, sich zu bestätigen.


«Politiker wider Willen»

Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen  Wissens, seiner militärischen Kenntnisse  und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten  Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.


Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany

Beitrag vom 16.03.2025

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Das könnte sie auch interessieren

Fortsetzungsroman

41. Die Schüsse von Genf

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie. Hanspeter Born zeichnet darin ein anderes Bild des umstrittenen Bundesrats Marcel Pilet-Golaz, der 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Landes in die Hand nimmt. Kapitel 41: Die Schüsse von Genf.

Fortsetzungsroman

40. Pilet-Cervelat

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie. Hanspeter Born zeichnet darin ein anderes Bild des umstrittenen Bundesrats Marcel Pilet-Golaz, der 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Landes in die Hand nimmt. Kapitel 40: Pilet-Cervelat.

Fortsetzungsroman

39. Dichter müsste man sein

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie. Hanspeter Born zeichnet darin ein anderes Bild des umstrittenen Bundesrats Marcel Pilet-Golaz, der 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Landes in die Hand nimmt. Kapitel 39: Dichter müsste man sein.

Fortsetzungsroman

38. Ein Bauernhaus im Waadtland

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie. Hanspeter Born zeichnet darin ein anderes Bild des umstrittenen Bundesrats Marcel Pilet-Golaz, der 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Landes in die Hand nimmt. Kapitel 38: Ein Bauernhaus im Waadtland.