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Winterwochenende 4. Dezember 2023

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom ersten Schnee und dem Lieblingsmonat Dezember.

Usch Vollenwyder
© Jessica Prinz

In grossen Flocken fällt der Schnee vom Himmel. Ich ziehe die dicke Daunenjacke an, schlüpfe in die warmen Stiefel, suche Handschuhe, Halstuch und Mütze zusammen und mache mich auf den Weg zum Bahnhof. Eine weisse Decke liegt auf Dächern, Bäumen und Zäunen. Das Strässchen ist nicht geräumt, ich gehe langsam und vorsichtig. Die Welt um mich ist ruhig und friedlich. Der Schnee verschluckt den Lärm der wenigen Autos. Der Dezember ist mein Monat: Ich mag die Adventszeit mit ihren Lichtern, Düften und Klängen. Ich mag die Weihnachtsgeschichte, die mit dem Kind in der Krippe neue Hoffnung verspricht. Mein Herz ist offener für kleine und grössere Begegnungen. Der Dezember hat für mich seit jeher einen ganz besonderen Zauber.

Der Zug hat Verspätung. Ich schicke einen stummen Dank zu den vielen Arbeitern, die wegen des Schnees im Einsatz stehen. Sie haben sich das Wochenende wohl anders vorgestellt… Vor dem Buchladen, in dem ich meine Bestellung abhole, steht ein Obdachloser mit einem Korb voller Grittibänze. Er sammle Geld für die Notschlafstelle – ob ich ihm auch einen abkaufen würde? Er habe sie selber gebacken. Natürlich kaufe ich ihm einen ab. Mit den wulstigen Verzierungen um Arme, Beine, Kopf und Bauch ist das Teigmännchen wahrlich kein Kunstwerk. Als ich das zahnlose Lächeln seines Schöpfers erwidere und dessen schwarz umrandete Fingernägel sehe, weiss ich, dass das ein Hunde-Grittibänz werden wird. Wir wünschen einander schöne Weihnachten.

Ich spaziere über den Weihnachtsmarkt. Die Stände sind mit Tannzweigen und Lichterketten geschmückt. Ich mag auch die Weihnachtslieder, die da und dort aus einem Lautsprecher klingen – und den Schnee, der immer noch vom Himmel flöckelt. Bei der Rolltreppe zur Bahnhofunterführung steht eine junge Familie. Der Vater spielt Gitarre, die Mutter schaukelt mit der einen Hand den Kinderwagen hin und her und fingert mit der anderen am Handy herum. Zusammen singen sie inbrünstig das spanische Weihnachtslied «Feliz Navidad» und schunkeln dazu im Rhythmus. Ich lege ein Geldstück in den Gitarrenkasten und muss lachen: Die Heilige Familie in der heutigen Zeit!

Am nächsten Morgen zeigt sich die Landschaft im Winterkleid. Der Himmel ist blau, die Sonne scheint – und es ist so eisig kalt, dass der Schnee überall hängen und liegen bleibt. Ich ziehe mich warm an und stapfe mit dem Hund durch die Gegend. Wie Diamantensplitter glitzern die Schneekristalle. Über dem Waldweg bilden die schneebeladenen Äste der Bäume einen Tunnel, durch den ich hindurchschlüpfen kann. Rundum ist alles so schön wie in einem Wintermärchenbuch.   

Am Abend öffnet sich im Dorf das dritte Adventsfenster. Im beleuchteten Stallfenster hat der Nachbar seine alte Krippe aufgestellt. Ein selbst gemachter, fein ziselierter Stern aus Holz führt die Könige und Hirten zum Wunder im Stall. Dazu gibt es Glühwein und Züpfe. Ich fühle mich wohl unter den Dörfli-Leuten. Auch wenn wir vielfach anderer Meinung sind, weiss ich doch: Im Notfall steht man füreinander ein.

Ich liege im Bett, eingekuschelt unter zwei Duvets. Auch im Winter stehen die Fenster weit offen. Ich mag die kalte Winterluft, ich mag den Blick durch das Dachfenster in den klaren Himmel. Ich denke an meinen Geburtstag nächste Woche: Ich werde 73, und ich freue mich darauf! Der Dezember ist definitiv mein Monat.


  • Wie denken Sie über den Monat Dezember? Mögen Sie die Vorweihnachtszeit? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon erzählen oder die Kolumne mit anderen teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
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Beitrag vom 04.12.2023

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