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Vo Züri uf Bärn (2) 11. April 2022

Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom durchgetakteten Berufsalltag zum Verweilen im Augenblick. 

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Zu meiner Wanderung vom Arbeitsort Zürich zurück in die Pensionierung nach Bern hat mir meine Freundin aus Lehrerinnenzeiten ein Büchlein geschenkt. «Wie schnürt ein Mystiker seine Wanderschuhe?» heisst es und trägt den Untertitel «Die grossen Fragen und der tägliche Kleinkram». Geschrieben hat es der verstorbene Schriftsteller und Radiojournalist Lorenz Marti. Am Abend vor jedem Wandertag nehme ich mir eins der kleinen Kapitelchen vor. Auch wenn mir Mystikerinnen, Wüstenväter, Kirchenlehrer oder buddhistische Weisen eher fremd sind, gibt es doch immer wieder den einen oder anderen Abschnitt, über den es sich nachzudenken lohnt. 

An einem bleibe ich besonders hängen. Lorenz Marti erzählt darin, wie viel er jeden Tag zu erledigen hat – vom Zähneputzen über Dateien sichern zum Brot einkaufen oder Pflanzen giessen. Sein Leben lang gäbe es immer etwas Nächstes zu tun. Und er fragt sich, ob nicht sein «Erledigungswahn» ihn daran hindere, sich auf das Abenteuer des gegenwärtigen Augenblicks einzulassen. In Gedanken sei er nämlich immer schon dort, wo er hinwolle. Und nie da, wo er gerade sei. Er zieht für sich den Schluss: «Wo ich bin und was ich tue, ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass ich mit ganzem Herzen dabei bin. (…) Dass ich hier bleibe und nicht gedanklich in eine imaginäre Zukunft entfliehe.» 

Ich wandere von Zürich nach Bern und stelle fest, dass auch meine Gedanken überall sind – nur nicht dort, wo ich gerade einen Fuss vor den anderen setze. Der Limmat entlang hoffe ich, dass die Mittagspause bald vorüber ist und die vielen Joggerinnen und Velofahrer, die mir in die Quere kommen, wieder zur Arbeit müssen. In Brugg beeile ich mich, weil ich möglichst schnell das Industriegebiet hinter mir lassen will. Meine Gedanken kreisen darum, ob ich unterwegs ein Restaurant oder einen Picknickplatz an der Sonne finde. Auf dem geteerten Strässchen zwischen Riedtwil und Wynigen jammere ich über die lange Asphaltstrecke. Erst auf dem Foto fällt mir auf, wie faszinierend gelb der Himmel über Aarburg gefärbt war. Ich hatte nur daran gedacht, dass der Saharastaub meine Augen reizen würde. Wenn meine Gedanken hin und her flitzen, bin ich blind für die Welt um mich herum.

Selten gelingt es mir, ganz im «Hier und Jetzt» zu sein. Und wenn, dann nur für einen kurzen Augenblick: Als ich mich im Löhliwald bei Herzogenbuchsee am Teppich aus Geissenblümchen nicht sattsehen kann. Als ich auf einer Bank an der Aare in der Sonne liege und dem Vogelgezwitscher in den Bäumen lausche. Als ich mich im «Bahnhöfli» in Hindelbank über die von Hand geschriebene Menükarte freue. Oder als ich am letzten Regentag im Wald vor Zollikofen unterwegs bin, die feuchte Erde rieche und die Regentropfen auf meiner Kapuze höre. Aber auch, als ich die ganze Hässlichkeit von Schönbühls Industriequartier mit dem Autobahnkreuz auf mich wirken lasse. 

In diesen Augenblicken ist das Leben intensiver, und die Zeit scheint stillzustehen. Während mein Berufsalltag auf Wochen hinaus verplant war, hätte ich jetzt Zeit zum Innehalten und Verweilen. Ich muss es nur noch lernen.


  • Können Sie im Moment innehalten und darin verweilen? Fällt Ihnen das leicht oder mussten Sie es auch zuerst lernen. Erzählen Sie uns Im Kommentarfeld doch von Ihren Erfahrungen. Wir würden uns freuen.

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Beitrag vom 11.04.2022

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