© iStock

«Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…» 6. Januar 2025

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von schlechten Nachrichten und einem guten Neujahrsvorsatz.

Unser Adventsgospelchor hatte seinen dritten und letzten Auftritt in einem ökumenischen Gottesdienst in der reformierten Kirche Bolligen. Die Pfarrerin kündete die Schweizer Schauspielerin und Sprecherin Dorothee Reize an, die im Dorf wohnt. Sie würde eine Geschichte vorlesen, eine Weihnachtsgeschichte. In ihrem schönen Bühnenhochdeutsch trug Dorothee Reize eine kurze Erzählung von Franz Hohler vor, die mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht. Denn eigentlich ist es auch Geschichte zum neuen Jahr. Der Schriftsteller erzählt in Ich-Form eine kleine Szene, die er an einem Bahnhof beobachtet hat:

Eine Frau durchquert mit einem Kind an der Hand den Bahnhof, als sich die Tür des nahen Restaurants öffnet und ein Kellner herausstürzt, mit einem Stofftier in der Hand. Er schaut sich um, dann rennt er den Beiden hinterher und ruft ihnen etwas zu. Sie bleiben stehen. Der Kellner legt dem Kind sein vergessenes Stofftier in den Arm, dann dreht er sich um und geht zurück an seine Arbeit. Am Abend hört Franz Hohler, der Ich-Erzähler, die Nachrichten. Er hört von Krieg und Katastrophen, von Unglücksfällen und Verbrechen. Und er vermisst die eine, die ganz besondere Nachricht: Die Geschichte vom Kellner, der dem Kind das vergessene Stofftier nachgetragen hat. 

Am dritten Januar erscheint die erste Zeitung im neuen Jahr. Ich suche nach positiven Nachrichten. Es muss sie doch geben, die Meldungen, die von Menschenfreundlichkeit, Selbstlosigkeit und Lebensfreude erzählen. Die Mut machen und Hoffnung schenken. Auf der ersten Doppelseite prophezeit ein Klimapionier seine düsteren Prognosen, die zweite ist der Amokfahrt in New Orleans gewidmet. Danach folgen die schlechten Nachrichten im Seitentakt: Geflüchtete in Kiew, Korruption im chinesischen Spitzensport, eine in Teheran verhaftete italienische Journalistin. Immerhin haben Sonne und Schnee Skigebieten einen guten Saisonstart ermöglicht – das vermeldet eine kurze Notiz am Seitenrand. 

Eigentlich fasse ich keine guten Vorsätze fürs neue Jahr. Sie haben die Eigenschaft, dass sie schon nach kurzer Zeit verpuffen. Trotzdem nehme ich mir vor, digital zu «detoxen»: Es kann doch nicht sein, dass ich mehrmals am Tag auf einem halben Dutzend Zeitungs-Apps immer wieder zu den neusten Nachrichten scrolle – meistens Nachrichten, die mich lähmen oder in Weltuntergangsstimmung versetzen. Ich beschliesse, nur noch am Morgen und am Abend die Tagesaktualitäten zu lesen, dazwischen sollen sie tabu sein. Ob’s gelingt? Als «News Junkie» wird es mir nicht leichtfallen. Einen Versuch ist es wert.

Übrigens: Auf der letzten Seite der Zeitung vom dritten Januar, in der Rubrik O-Ton, finde ich die gute Nachricht doch noch. Es ist ein Zitat von Hermann Hesse: «Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.» 

Und so bleibt die Hoffnung, dass das junge neue Jahr doch auch positive Überraschungen und Wendungen zum Guten bereithält. 


  • Wie gehen Sie mit den schlechten Nachrichten in den Medien um? Belasten Sie diese auch und was tun Sie dagegen? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon berichten oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
  • Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»

Sie besitzen noch kein Abonnement der Zeitlupe?

Abonnieren Sie die Zeitlupe und lesen Sie alle unsere Artikel auch online.

Ich möchte die Zeitlupe abonnieren

Beitrag vom 06.01.2025
Usch Vollenwyder

Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Das könnte sie auch interessieren

Uschs Notizen

Pubertäts-Workshop

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von der Königin, Fritz und Lobra und von Maria Goretti.

Uschs Notizen

Schule heute

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Hausaufgaben und Tells Geschoss.

Uschs Notizen

Dünnhäutig

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Ferien in Marokko mit Höhen und Tiefen.

Uschs Notizen

Himmelsleiter

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom Abschied von ihrer ältesten Freundin.