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Tränen um den Osterhasen 5. Mai 2025

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom Ende der magischen Welt der grossen Kleinen.

Tränen kullern aus den braunen Augen der grossen Kleinen. «Und der Drache», fragt sie, «ist der Drache auch nie an meinem Fenster vorbeigeflogen? Und die Elfen, Zwerge und Feen im Garten, die gab es auch nicht?» Meine Schwiegertochter hätte ihre Worte am liebsten zurückgenommen. Aber es ist schon zu spät. Die grosse Kleine weint bitterlich, als sie hört, dass in Wirklichkeit Mama und Papa die Ostereier und das Osternest bringen. Dabei hat meine Schwiegertochter sie nur vor den Hänseleien ihrer Schulgspänli schützen wollen, wenn diese hören, dass sie immer noch an den Osterhasen glaubt. Die magische Welt der grossen Kleinen, die ohnehin schon erste Risse aufwies, ist jäh zusammengebrochen. 

Wie wichtig waren ihr all die Zauberwesen gewesen, die bis anhin Haus und Garten bevölkerten! Kokosnussschalen hatte sie mit Moos ausgelegt, an Schnüren befestigt und an einem Tännchen als Hängematten für die Zwerge aufgehängt. Im Winterwald baute sie mit ihrem Papa zusammen ein Haus aus Holz und beleuchtete es von innen, damit die kleinen Wichte in der Kälte und im Finstern ihr warmes Häuschen finden würden. Auf jedem Waldspaziergang fand sie im Wurzelwerk von Bäumen Eingänge zu Höhlen, in denen winzige Kobolde lebten. Aus Sperrholz sägte sie Häuschen und stellte sie am Wiesenbord auf, damit nächtliche Feen einen Unterschlupf finden würden. Für die Elfen bastelte sie Bettchen aus duftenden Blütenblättern.

Wenn sie etwas auf dem Herzen hatte, schrieb sie den Zwergen einen Brief. Einmal hatte sie einen ganz besonders grossen Wunsch: Sie wollte unbedingt einen Dinosaurier sehen. Das Brieflein legte sie auf einen Teller, füllte ihn mit Haselnüssen und getrockneten Apfelschnitzen und stellte ihn auf den Fenstersims. Am nächsten Morgen waren Brief, Nüsse und Schnitze weg. Auf dem Teller lagen ein Bergkristall und ein Umschlag: «Die Dinosaurier lebten in einer anderen, längst vergangenen Zeit», schrieben die Zwerge in schönen, goldenen Buchstaben. Aber sie würden in Büchern, Museen und im Herzen von Kindern weiterleben. Und sie solle nie aufhören, grosse Wünsche zu haben. 

Sie schluchzt beim Gedanken, was in ihrem Leben alles nicht wahr gewesen sein soll. Ihre ratlose Mama versucht ihr zu erklären, warum sie ihr gesagt hat, dass es keinen Osterhasen gibt. Doch das lässt die grosse Kleine nicht gelten. Ihre Logik ist überzeugend: Es sei doch klar, dass der Osterhase nicht zu Lena oder Astrid oder Adrian komme, die würden ja auch nicht an ihn glauben. «Aber ich habe immer gedacht, wenn ich fest an ihn glaube, dann gibt es ihn auch in Wirklichkeit.» Die Enttäuschung tut weh. Ich leide mit der grossen Kleinen. Und hoffe, dass sie trotz allem den Glauben an viele gute Geister, die sie in ihrem Leben begleiten und beschützen, nicht verliert. 

Am Ostermorgen sind überall im Garten kleine und grössere bunte Schoggi-Eier versteckt. Die grosse Kleine hat ein Körbchen mit farbigen Bändern verziert und springt, als Frühlingsfee verkleidet, von einem Versteck zum nächsten. Die Tränen sind versiegt, der Korb füllt sich mit Eiern. Ostern ist zwar nicht mehr so wie früher – aber Mama und Papa haben ihre Sache auch gut gemacht. 


  • Wie fühlte es sich an, als Sie Ihren Kindern oder Enkelkindern gestanden, dass es Osterhase, Elfen, Zwerge, Samichlaus & Co. gar nicht gibt? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon berichten oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
  • Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»

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Beitrag vom 05.05.2025
Usch Vollenwyder

Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

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