Schrumpfende Zeit 19. Juli 2021
Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (69) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom traditionellen Familientreffen und von runden Geburtstagen.
Seit über dreissig Jahren sieht sich die Familie meines Mannes am traditionellen Pfingsttreffen. Wir nennen es immer noch so, obwohl es sich in der Zwischenzeit in den Sommer hinein verschoben hat. Die Gastgebenden organisieren jeweils eine Hamme, und alle bringen einen Salat oder ein Dessert mit. In den Anfangszeiten waren wir gegen dreissig Leute. Vor einem Jahr ist der letzte der Onkel gestorben, und bei der nachfolgenden Generation verliert sich grösstenteils das Interesse. Aber immer noch sind wir eine stattliche Schar von Cousinen und Cousins, die sich das jährliche Treffen nicht entgehen lässt.
Eigentlich wollte ich davon schreiben, wie sich nach zwei Jahren – im letzten Sommer wurde das Treffen schweren Herzens wegen Corona abgesagt – das Wiedersehen gestaltete. Denn auch in dieser Familie gibt es Impfbefürworter, -skeptiker und -gegner, solche, die nach wie vor auf Abstand achten und andere, die sich nicht mehr darum kümmern. Diskussionsstoff und Konfliktpotenzial müssten genug in der Luft liegen. Doch dann erscheint die Älteste der Cousinen und mit ihr ein anderes Thema.
Sie sieht rundum gut aus: Ihr Gesicht ist von der Sonne gebräunt, die Sonnenbrille lässig im Wuschelhaar zurückgeschoben, einige Kilos sind weg. Ich höre, wie sie zu einer jüngeren Cousine sagt: «Dieser Geburtstag ist einfach nur schrecklich. Mir schrumpft die Zeit davon.» Ich trete näher, wir haben den gleichen Jahrgang. Sie wird im August, ich im Dezember siebzig. Alle würden sie trösten, sie sehe ja gar nicht aus wie siebzig. Doch es gehe überhaupt nicht darum. «Es geht um die Zahl. Siebzig. Wie lange bleibt mir noch?» In zehn Jahren werde sie achtzig, mit 79 sei ihre Mama gestorben. Sie realisiere, wie schnell die Jahre seit ihrer Pensionierung verflogen seien und wie wenig Zeit ihr noch bleibe. Dabei lebe sie doch sooo gern: «Ich bin voller Lebensfreude.»
Sie erzählt vom ersten Tag ihrer Pensionierung. Wie sie im Bett gelegen und gedacht habe, dass sie jetzt nichts mehr müsse. Und wie sehr sie die nächsten Jahren genossen habe. «Wo ist nur die Zeit geblieben?» fragt sie ganz verzweifelt. Ich denke an meinen eigenen runden Geburtstag in wenigen Monaten. Noch bin ich ganz unbeschwert. Doch wer weiss, wie es sein wird. Als ich sechzig wurde, sagten mir ältere Freundinnen: «Warte nur, bis du siebzig wirst.». Bald ist es soweit. Ich lasse es auf mich zukommen.
Übrigens: Das Familienfest ist rundum gelungen. An den Tischen unter den schattigen Bäumen herrschte Wiedersehensfreude und eine entspannte Atmosphäre. Corona-Themen wurden im Gespräch nicht umschifft. Sie scheinen jahrelang gepflegten verwandtschaftlichen Beziehungen standzuhalten.
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