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Neujahrswünsche 4. Januar 2022

Die ehemalige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (70) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Hühner-Weihnachten und tragenden Beziehungen. 

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Die Kleine ist gross geworden. Ich sehe sie nicht mehr jeden Tag. Ihr Zimmer ist ihre Wunderwelt. Dort baut sie weiterhin neue Dino-Anlagen auf. Auf ihrem Tisch hat es alle Varianten von Stiften, mit denen sie Unmengen von Zeichnungen produziert. Sie liegt auf dem Bauch auf dem Boden und blättert sich durch interaktive Tiptoi-Bücher – ein «audiodigitales Lern- und Kreativsystem», von dem ich alte Grossmutter nie etwas gehört habe und das mich zum Staunen bringt. Auf dem Handy ihres Papas darf sie erste Spiele machen. Zu Weihnachten hat sie ein Mikroskop bekommen. Neben den Dinosauriern wird jetzt die Welt des Mikrokosmos entdeckt. 

Sie ist selbstständig geworden. Sie hat tausend Ideen. Aus der Gärtnerei hat ihre Mama ein krummes Tannenbäumchen gebracht, das niemand haben wollte. Es wird im Hühnerstall aufgestellt. Mit Mamas Hilfe kocht die Kleine Spaghetti-Lametta, damit soll der Baum an Weihnachten geschmückt werden. Als ihre Mutter am Tag vor Heiligabend arbeiten muss und ihr Papa in der Werkstatt an einem letzten Weihnachtsgeschenk arbeitet, kommt sie mit einem Korb voller Back-Utensilien zu uns herauf. Sie will Anhänger für den Hühner-Weihnachtsbaum machen, darf aber noch nicht allein am Küchenherd hantieren.

Mein Mann erklärt ihr den Induktionsherd, dann will sie selber weitermachen. Sie lässt Kokosfett in einem Pfännchen zergehen, vermischt es mit Gersten- und Weizenkörnern. Haferflocken und Sonnenblumenkernen und füllt die Masse in verschiedene Backförmchen auf einem Kuchenblech. Sie stellt das Blech hinaus in die Kälte. Regelmässig prüft sie die Konsistenz ihrer Kreationen: Die körnige Fettmasse muss die richtige Temperatur haben, damit sie aus den Förmchen gepresst werden kann, ohne dabei zu zerbrechen oder zu zerfliessen. Meine Hilfe lehnt sie ab: «Groo, das kann ich doch allein», weist sie mich leicht genervt zurecht. 

Noch im letzten Sommer kam sie fast jeden Abend für eine Gute-Nacht-Geschichte in unsere Wohnung hoch, stellte für den Hund einen Parcours zusammen, baute aus Stühlen, Decken und Kissen ein Zelt oder wollte Memory spielen, bei dem sie mit jeder Garantie immer gewann. Im September gingen wir in die Ferien, im Oktober fuhr die junge Familie weg, und als sie zurückkam, war die frühe Kindheit vorüber. Aus dem liebevollen Wörtchen «Grosi» ist ein langgezogenes «Groo» oder «Goog» geworden – manchmal seufzend, Augen rollend oder Schulter zuckend, je nachdem, ob ihr die alte Grossmutter zu langsam, zu umständlich, zu fürsorglich oder zu peinlich ist. 

Ich werde ganz wehmütig. Die erste Grosi-Zeit ist definitiv vorbei. Ich bin nicht mehr gefragt, jedenfalls nicht mehr so wie früher. Ich kann nur noch darauf vertrauen, dass das Band, das in den acht Jahren zwischen uns gewachsen ist, hält. Zu Weihnachten bekomme ich von ihr eine Zeichnung. Sie ist so schön, dass ich meine Tränen überspielen muss: Die Kleine und ich gehen Hand in Hand auf einen grossen, goldenen Vollmond zu, mit der freien Hand umfassen wir seine Ränder. Auch von hinten erkennt man uns – beide in Jeans, sie mit dem braunen Kraushaar, ich mit der Kurzhaarfrisur und der Umhängetasche. Ich bin versöhnt. 

Mein Wunsch zum neuen Jahr: Dass der Boden trägt, der uns als Gesellschaft letztlich verbindet – allen Gehässigkeiten der letzten Monate zum Trotz. 


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Beitrag vom 04.01.2022

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