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Gedenktage 31. Januar 2022

Die ehemalige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (70) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: ein erschütternder Film und Tränen im deutschen Bundestag. 

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Der Film beschäftigt mich die ganze Woche: Fünfzehn Männer und eine protokollführende Sekretärin sitzen um einen hufeisenförmigen Tisch. Die Frau ist jung und blond. Die Männer, ranghohe Vertreter der Nazi-Reichsregierung und SS-Behörden, tragen dunkle Anzüge oder Uniform. Zur «Besprechung mit anschliessendem Frühstück» hatte SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich in eine Villa am Berliner Wannsee eingeladen. Einziges Traktandum: «Die Endlösung der Judenfrage». Der Tod von elf Millionen Menschen. «Die vollständige biologische Auslöschung des Judentums bis zum Ural. Nicht nur der Reichsjuden.» Das sei die Zielvorgabe, sagt der Gastgeber.

Der Fernsehfilm «Die Wannseekonferenz» von Matti Geschonneck entstand anlässlich des 80. Jahrestags der historischen Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 und folgt weitgehend den Ausführungen, wie sie im Protokoll festgehalten sind. «Wie gedenkt man dieser Judenmasse Herr zu werden?» stellt einer der Anwesenden die Frage. Die Teilnehmer diskutieren Zuständigkeiten, Kosten und logistische Herausforderungen. Reinhard Heydrich will das Reich im Westen beginnend «säubern», doch die Vertreter aus dem Osten sind nicht einverstanden: «Wenn wir schon die Endlösungsräume stellen, sollten unsere Juden zuerst abgearbeitet werden.» 

Die unspektakulären Bilder und emotionslosen Dialoge sind kaum zu ertragen. Ich möchte wegschauen und weghören und bleibe doch bis zum Abspann vor dem Fernseher sitzen. «Grauenhaft» höre ich meinen Mann flüstern. Ich stehe auf, muss hinaus. Ich laufe mit dem Hund durch die kalte Nacht. So sehr ich auch nachdenke, ich finde keinen tröstlichen Gedanken, der das Unfassbare erträglicher macht. Die Frage, wie so etwas möglich sein konnte, bleibt unbeantwortet. Der Alptraum aus dieser Zeit vor achtzig Jahren begleitet mich in den Schlaf. 

Drei Tage später – wieder vor dem Fernseher – zappe ich auf ARD ins «heute journal». Es ist der 77. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Der Bundestag gedenkt der Toten und Überlebenden. Die 87-jährige Inge Auerbach steht am Rednerpult. Sie erzählt von ihrer Freundin Ruth im Konzentrationslager Theresienstadt, die schliesslich in einer der Gaskammern von Auschwitz ermordet wurde. Wie Schwestern seien sie gewesen und hätten sich versprochen, einander nach dem Krieg in ihrer jeweiligen Heimatstadt zu besuchen. «Ruth», ruft sie in den Saal, «ich bin hier in Berlin, um dich zu besuchen». Danach ergreift der israelische Parlamentspräsident Mickey Levy als geladener Gast das Wort. Aus dem Gebetbuch eines Jungen, Opfer der Shoa, liest er das jüdische Totengebet. Weinend rezitiert er die letzten Worte, weinend umarmt er die Holocaust-Überlebende. Im Bundestag herrscht ergriffenes Schweigen. 

Auch mir kommen Tränen – und doch noch ein tröstlicher Gedanke: dass sich die Geschichte nicht wiederholen kann, solange Menschen darüber weinen und andere sich davon berühren lassen.

«Die Wannseekonferenz» ist abrufbar in der ZDF-Mediathek.


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Beitrag vom 31.01.2022

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