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Gastfreundschaft 17. Juni 2022

Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag. Heute: von kreolischen Buffets und Schulerinnerungen.

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Der Sohn meiner gleichaltrigen Freundin hat Geburtstag. Natürlich sind wir auch eingeladen. Doch als wir bei ihr ankommen, steht sie vor dem Haus – mit Maske und einer grossen Tasche. Ihr Sohn habe Fieber und Gliederschmerzen und noch keinen Corona-Test machen können. Die Zahlen sind auch auf den Seychellen wieder zunehmend, zurzeit beträgt die 7-Tage-Inzidenz 200. Laut Statistik sind auf den rund 90’000 Einwohner zählenden Inseln 167 Menschen an Covid gestorben. In den öffentlichen Gebäuden, an Schulen, im Bus und in grösseren Geschäften gilt nach wie vor die Maskenpflicht. Noch tragen viele auch draussen einen Mund- und Nasenschutz, bei anderen hingegen hat sich längst wieder Sorglosigkeit breitgemacht.  

Meine Freundin drückt uns die Tasche mit dem Geburtstagsessen in die Hand, von der Veranda winken uns Schwiegertochter und Enkelin zu. Zu Hause zaubern wir das kreolische Buffet auf den Tisch. Es ist köstlich: Tintenfisch- und Poulet-Curry – kari zourite und kari koko poul – Papaya- und Krabbensalat, gebackene Auberginen, Reis und Linsenmus, karamellisierte Bananen. Mir fehlen weder Spaghetti noch Emmentalisches Lammvoressen. Wir geniessen die einheimischen Gerichte. Reis und Fisch in allen Variationen, dazu die Früchte, die das Land hergibt: Papaya und Mango, Bananen und Kokosnüsse, Passionsfrüchte und Guaven, Brotfrüchte und Avocados.

Auch bei meiner ehemaligen Schülerin Georgette erwartet uns ein Mittagessen. Die ganze Familie hat dabei mitgekocht. Georgette wohnt in einem kleinen Haus auf einem gerodeten Terrain mitten im Dschungel des Morne Seychellois Nationalparks, umgeben von den einfachen Häusern ihrer fünf Söhne und Töchter. Das Buffet ist im «Gästehaus» angerichtet, am Tisch nehmen nur Georgette und wir als Ehrengäste Platz. Eine Schwiegertochter dreht das Radio laut auf, und die aktuellsten Sega-Hits dröhnen aus dem wackligen Lautsprecher. Nach uns füllen Töchter, Schwiegertöchter und Enkelkinder ihren Teller und setzen sich auf die Polstergruppe. Eine Polstergruppe, möglichst gross, schwer, goldbetresst und vielfach von der Feuchtigkeit arg lädiert, gehört in jeden Haushalt und füllt die ohnehin kleinen Stuben fast zur Gänze aus.

Wir sind zu einem Hochzeitstag eingeladen und übernachten bei meinem Herzensfreund und seiner Frau in ihrem Haus mit Blick hinunter auf die Südspitze der Insel, auf die weissen Buchten, die vorgelagerten Inselchen und die Weite des Meeres in all seinen Blautönen. Bevor ich mich vorsehen kann, haben meine ehemaligen Schülerinnen eine WhatsApp-Gruppe gegründet. Am liebsten würden sie mich einzeln zu sich nach Hause einladen. Ich schlage ein Treffen in der Stadt vor und werde mit Umarmungen, Geschenken und Erinnerungen überhäuft. Die inzwischen 60-jährigen Berufsfrauen und Grossmütter erzählen von Begebenheiten und Begegnungen, die ich längst vergessen habe: «Miss Ursula, du warst anders», sagen sie.

Die Kinder damals wurden geschlagen, die Rute war das Erziehungsmittel schlechthin. Sie bekamen sie zu Hause zu spüren, aber auch von den Lehrerinnen. Besonders ungehorsame Schülerinnen und Schüler wurden zum Schulvorsteher geschickt, der die Rutenschläge noch verdoppelte. Kinder hatten nur wenig Rechte, sie wurden nicht gehört und ihre Bedürfnisse kaum wahrgenommen. Meine einheimischen Kolleginnen schauten mich verständnislos an, wenn ich von einem Erziehungsstil redete, den sie sich nicht vorstellen konnten.

Oft habe ich mich in den vergangenen Jahrzehnten gefragt, ob mein Einsatz damals überhaupt sinnvoll gewesen sei. Oder ob nicht einfach ich profitiert hätte – von einer anderen Kultur und neuen Erfahrungen. Dieser Satz meiner Schülerinnen «Miss Ursula, du warst anders» tut meiner Seele gut.


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Beitrag vom 17.06.2022

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