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Das grosse Los 8. Mai 2023

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom Privileg, hier und heute leben zu dürfen. 

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Der diesjährige Frühlingsferien-Ausflug mit der Kleinen führt nach Luzern. Ich habe ihr vom Spiegelsaal im Gletschergarten erzählt, in dem man sich von allen Seiten immer wieder selbst begegnet. Und vom verwirrenden Weg, der zwischen all den Spiegeln hindurch zum Ausgang führt. Das will sie auch erleben! Zuerst noch zögernd, dann immer schneller durcheilt sie das Labyrinth, das die Illusion des Alhambra-Palasts von Granada vermittelt und maurisches Flair vervielfacht. Daneben locken die unterirdische Felsenwelt, Gletschermühlen und -töpfe, Fossilien, Mineralien und natürlich ein Glacé. Die Kleine nimmt sich Zeit. Sie will alles ganz genau wissen.

Wir gehen schon dem Ausgang zu, als wir an vier Zerrspiegeln vorbeikommen. Der eine macht uns lang und dünn – mein Mann erklärt ihn zu seinem Lieblingsspiegel. Bereits auf dem nächsten schrumpfen wir zu kleinen Wichten mit stämmigen Oberschenkeln. Auf einem anderen wachsen unsere Haarschöpfe zu hohen Türmen, während die Beine kurz und dick bleiben. Die Kleine dreht und wendet sich vor den Spiegeln, hüpft von einem zum anderen und wirft sich in turnerische Posen. Sie kann nicht mehr aufhören mit Lachen, und wir lachen mit, weil ihr Lachen so ansteckend ist. Pure Ausgelassenheit, Unbeschwertheit und Freude! 

Weniger als 24 Stunden später sitze ich für einen Zeitlupe-Artikel einem Holocaust-Überlebenden gegenüber. Mit seinen 99 Jahren gehört er zu den letzten Zeugen der Schoah. Seine Mutter und sechs Geschwister wurden in Auschwitz ermordet, ein Bruder starb in einem Zwangsarbeitslager, sein Vater wurde erschossen, er selber kam ins KZ Buchenwald. Im Mai 1945 wurde er befreit – krank, ausgemergelt, gebrochen. Nach der Pensionierung erst begann er, seine Erlebnisse in Bildern festzuhalten. Er sagt: «Für dieses Grauen gibt es keine Worte.» Der alte Mann rührt mich zutiefst. Am Tag zuvor erlebte ich so viel Lebensfreude, jetzt spüre ich nur Trauer und Schmerz. Ich schweige, hilflos und aufgewühlt, zusammen mit meinem Gegenüber. 

Auf dem Heimweg versuche ich mir einmal zusammenzureimen, warum die einen unter einem Glücksstern geboren werden und andere so viel Leid erfahren müssen. Die Gedanken führen wie immer ins Leere. 

Im Bund lese ich einen Artikel über den US-Schweizer Schriftsteller und Anwalt Daniel Levin, der vor kurzem sein Buch «Zwanzig Tage» veröffentlicht hat. In diesem Thriller beschreibt der Regierungs- und Entwicklungsberater den Versuch einer Geiselbefreiung im Nahen Osten. Vom Journalisten auf die weltweiten Ungerechtigkeiten angesprochen, sagt er: «Es sind letztlich nicht Fleiss, Intelligenz oder sonstige Tugenden, die das Leben eines Menschen bestimmen. Es ist ein skandalös ungerechtes Existenz-Lotto. Die einen haben dabei Glück – die anderen nicht.» 

Diese Erkenntnis habe er vor vielen Jahren auf einer frühmorgendlichen Taxifahrt durch die nigerianische Hauptstadt Lagos gewonnen: Kinder krochen aus der Kanalisation, um ihren Tag als Bettelnde zu beginnen. 

Natürlich weiss ich, dass der Zufall der Geburt noch keine Garantie für lebenslanges Glück bedeutet. Dafür sehe ich auch in meinem Umfeld zu viel Leid. Und doch sind wir es, die beim skandalös ungerechten Existenz-Lotto das grosse Los gezogen haben. Es ist ein Privileg, das verpflichtet –in einer ungerechten Welt, die längst in Schieflage geraten ist. 


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Beitrag vom 08.05.2023

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