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Aufräumen (5) 14. November 2022

Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom langwierigen Pensionierungsprojekt «Ausmisten», das bald zu einem Ende kommt.

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Ich weiss noch, wie die erste «Weltrundschau» in unsere Familie kam. Ein grosses, dickes Buch mit Goldschnitt und schwarzweissen Fotos auf Hochglanzpapier. Auf dem weinroten Einband war eine goldene Weltkugel aufgeprägt, darüber stand, ebenfalls in Goldschrift, «Weltrundschau 1960». Unser politisch interessierter Papa hatte sie abonniert – von jetzt an würde es jedes Jahr einen solchen Rückblick auf das Weltgeschehen geben. Das Buch lag dann eine Zeitlang auf dem Salontisch in unserer Stube, und wenn unser Vater es durchgelesen hatte, kam es in die Wohnwand – ein unentbehrliches Möbelstück im kleinbürgerlichen Haushalt von anno dazumal.

Auch wir Kinder durften in den kostbaren Bänden blättern. Natürlich mit der notwendigen Sorgfalt. Oft lag ich an einem Regennachmittag in der Stube auf dem Boden, vor mir eine Weltrundschau. Am liebsten waren mir die Sportereignisse und Sportgrössen, die jeweils auf den hintersten Seiten zusammengefasst waren: Goldmedaillengewinner Roger Staub, Dressurreiter Henri Chammartin auf «Woermann», das Eiskunstlaufpaar Marika Kilius und Hans Jürgen Bäumler. Die Politiker beurteilte ich nach ihrem Aussehen: Chruschtschow fand ich hässlich. Schön war Kennedy. Unvergessen die Bilder vom Attentat auf den amerikanischen Präsidenten am 22. November 1963 in Dallas. Sie gehören zum kollektiven Gedächtnis meiner Generation.

Als ich 1971 von zu Hause auszog, standen bereits elf Weltrundschau-Bände in der Wohnwand meiner Eltern. Ich verlor sie aus den Augen. Nach fünfzig Bänden kündigte mein Vater das Abonnement. Als meine Eltern wenige Jahre später in eine Alterswohnung zogen, wollte unser Papa sich von ihnen trennen. Für meinen Mann war klar: Die Bücher werden nicht zu uns gezügelt. Für mich war ebenso klar: Sie kommen zu mir. Sie würden nur Platz wegnehmen und ich würde sie sowieso nie mehr anschauen, argumentierte mein Mann. Sie seien ein Zeitdokument und allein deswegen kostbar, setzte ich mich schliesslich durch.

Seither belegen die Bände – ungenutzt und vernachlässigt – zwei Tablare in meinem Arbeitszimmer. Unschlüssig stehe ich davor. Behalten? Weggeben? Schliesslich blättere ich in der Weltrundschau von 1960: Der schwedische «Greis» Gustav Hakansson, ein «ausserordentlicher rüstiger Rauschebart von 75 Jahren», erreichte am 12. Januar nach 6000 Kilometern mit dem Velo Israel. «Die Verwertung der Sonnenenergie hat in den letzten Jahren erstaunliche Fortschritte gemacht» steht unter dem Bild eines kleinen Autos mit einer «Platte mit Sonnenbatterien» auf dem Dach. Die Nachricht vom Tod Henri Guisans am 7.April löste «im Schweizervolk tiefgreifende Gefühle der Trauer und des Schmerzes aus». Nach einem Blutbad in der südafrikanischen «Bantustadt» Sharpville am 21. März «besprach eine unabhängige britische Beobachtergruppe die unerquickliche Situation mit Regierungsmitgliedern und Eingeborenenführern». Im September wurde der Presse ein «Soldat des Atomzeitalters» in einem strahlensicheren Kampfanzug vorgestellt.

Die fünfzig Bände sind tatsächlich ein Zeitdokument in Wort und Bild. Natürlich behalte ich sie – den Unkenrufen meines Mannes zum Trotz.


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Beitrag vom 14.11.2022

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