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Aufräumen (3) 13. September 2022

Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom grossen Bruder an der Grenze.

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Eine der letzten Boxen, die es noch zu sortieren gilt, ist mit dem Namen meines Schwiegervaters angeschrieben. Bei seinem Tod vor 25 Jahren hatte ich die vielen Briefe und Notizblöcke – zusammengehalten von Gummibändern, die in der Zwischenzeit längst zerbröselt sind – vor dem Wegwerfen in Sicherheit gebracht. Jetzt muss mein Mann mitentscheiden, was von all den Erinnerungen und Unterlagen behalten wird, und was mit einem Vierteljahrhundert Verspätung auch noch wegkommt.

Viele Dokumente stammen aus den Kriegsjahren: Das Dienstbüchlein des Schwiegervaters, der 1939 die Rekrutenschule gemacht hat und gleich anschliessend in den Aktivdienst einberufen wurde. Das Dienstbüchlein der Schwiegermutter, die als Krankenschwester im damaligen FHD engagiert war. Anerkennungsurkunden für die geleisteten Diensttage. Ein langer Brief des Schweizerischen Krankenpflegebunds, «Schwester Erika» könne als Arbeitstracht vielleicht noch ihr schwarzes Kleid verwerten und ihren schwarzen Mantel weiterhin tragen: «In Anbetracht der Kriegszeit können wir Sie nicht zwingen, einen neuen anzuschaffen, auch wenn der Schnitt nicht ganz übereinstimmen sollte.»

Wir sortieren einen losen Packen Briefe, geschrieben von der zurückgebliebenen Familie, als der Zwanzigjährige an der Grenze stand. «Gel, das ist gebig, am Sontag Habt ihr nicht Halbt Verlesen, oder tu ich mich trumbiren?» schreibt der Jüngste. Der Zweitjüngste fragt, ob der grosse Bruder an Ostern heimkomme oder nicht. «Wen Du nicht kommen kanst so Schreibe sofort. Es ist wegen denn Eiern.» Er möchte auch wissen, ob beim Schlafen in der Kaserne das Fenster offenstehen dürfe oder nicht. Das Nesthäkchen formuliert für den Bruder ein Urlaubsgesuch: «Herr Hauptmann! Mein Bruder weti in den Urlaub. Die Schreinerei ist schwer belastet mit Arbeit. Der Vater ist ein alter Mann.»

Auf der Rückseite eines Kalenderblatts hält der Vater seinen Sohn über die Schreinerei auf dem Laufenden. Kurze Notizen von seiner Mutter, die mit den Worten enden «Herzl. Grüsse & Küsse v. Mutter». Rührend sind die vielen Briefe der grossen Schwestern. Sie schicken ihrem Bruder regelmässig saubere Wäsche, hin und wieder ein «Fresspäcklein» mit Selbstgemachtem, sie senden ihm die Schreinerzeitung und erzählen ihm aus dem Alltag: wer im Dorf krank oder gestorben ist, dass der Nachbarbauer in Büren einen internierten Polen abgeholt hat, und dass die «Grafensteiner» abgelesen sind und das Kilo für 35 Rappen verkauft werden konnte. Dass Vater noch ein Stallfenster zu machen habe und eventuell für ein bestelltes Buffet 350 lösen würde. Sorgen um die Zukunft schimmern zwischen den Zeilen durch.

Es dauert Stunden, bis mein Mann und ich den Inhalt der Box sortiert haben. Immer wieder bleiben wir an einem Dokument oder einem Brief hängen und lesen uns laut daraus vor. In Gedanken verweilen wir bei der Generation vor uns, die eine so andere Jugend gehabt hat, als wir sie erleben durften. Was sie dazu sagen würde, dass es den allermeisten Menschen von heute schwerfällt, sich schon nur auf eine um ein Grad kühlere Wohnung einzustellen? Sie hätte dafür wohl nur ein müdes Lächeln übrig.


  • Haben Sie auch noch Boxen mit alten Briefen und Zeitdokumenten ? Erzählen Sie uns doch davon. Oder teilen Sie die Kolumne mit anderen. Herzlichen Dank im Voraus.
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Beitrag vom 13.09.2022

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