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Abschied 4. Juli 2022

Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von schönen und traurigen Begegnungen.

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Ich bin zurück von den Seychellen – und voller Erinnerungen. Der Besuch auf dem Friedhof zum Beispiel: Ein farbenprächtiges Meer von Plastikblumen, die Gräber am Abhang kreuz und quer angeordnet. Einige mit kostbarem Stein umrandet, andere mit einem Erdhaufen bedeckt. Oder der Besuch beim Notar in der Stadt, der den Passantrag für die Kleine beglaubigen muss: Eine schmale Gasse führt zu seinem Arbeitsplatz, links und rechts flankiert von Beigen von Papier. Bis unter die Decke stapeln sie sich, vom Alter vergilbt und von der Feuchtigkeit gewellt. Und schliesslich die Farben und Gerüche überall auf der Insel: Die Grüntöne des Dschungels, die verschiedenen Blau des Meeres, das laute Leben rund um den Markt.

Am liebsten aber sind mir die Erinnerungen an die vielen Begegnungen. An meine «Girls» von der Schule, inzwischen 63 Jahre alt, die spontan eine Klassenzusammenkunft organisierten. Eine von ihnen machte «Punsch», einen Cocktail aus einheimischem Rum und Fruchtsaft. Es ging hoch und lustig zu und her – auch wenn ich «Miss Ursula» bleibe. Um keinen Preis würden mich «meine Mädchen» beim Vornamen nennen: es wäre für sie eine Respektlosigkeit. Mit meiner gleichaltrigen Freundin ist es vertraut wie früher – auch wenn wir seit unserem letzten Wiedersehen 27 Jahre älter geworden und in den letzten Jahren nur via WhatsApp in Kontakt geblieben sind.

Meine älteste und liebste Freundin ging ich gleich am Tag nach unserer Ankunft besuchen. Sie erwartete mich am Strassenrand, an der steilen Zufahrt zu ihrem Haus. Ich erschrak, wie klein und zerbrechlich sie mit 84 Jahren geworden war. Das Alter war schleichend gekommen und sie hatte sich daran gewöhnt. Jedenfalls hatte sie es nie als notwendig erachtet, mir in ihren regelmässigen Mails von ihren körperlichen Beschwerden zu erzählen: Dass sie kaum noch gehen kann, ständig Rückenschmerzen hat und ihre Zähne verliert. Aber sie ist lebendig und interessiert, und wir diskutieren wie seit jeher. Ihr körperlicher Zerfall zählt nicht – ich sehe ihre blitzenden Augen und den wachen Geist.

Mein Herzensfreund weiss nichts mehr von unserer intensiven Zeit in den Siebzigerjahren. Er erinnert sich nicht mehr an die Aufbruchstimmung in seinem Land und weltweit. Wie wir mit Gleichgesinnten über Julius Nyerere, Fidel Castro und Salvador Allende diskutierten. Und über die notwendige Revolution der Dritt-Welt-Länder gegen ihr Kolonialerbe. Wir lasen Frantz Fanons «Die Verdammten dieser Erde» und liessen uns von den Befreiungstheologen Helder Camara und Ernesto Cardenal inspirieren. Eine Nacht lang liess uns der Film «Face to Face» mit Liv Ullmann nicht mehr los. Wir hörten Musik von Georges Moustaki und lasen uns aus dem «Kleinen Prinzen» vor. All diese Erinnerungen sind weg.

Aber er kennt mich noch. Als er mich sieht, geht die Sonne auf. Wir umarmen uns, immer wieder. Er spürt die alte Vertrautheit. Ich bin erschüttert und traurig – und voller Zärtlichkeit für ihn und seine Frau. Sie weint und denkt mit Bangen an die Zukunft: Sie kann sich nicht vorstellen, wie sie die kommenden Jahre bewältigen wird.

Und ich denke einmal mehr, wie privilegiert wir in unserem Land alt werden können. Mein schlechtes Gewissen und eine grosse Dankbarkeit halten sich die Waage.


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Beitrag vom 04.07.2022

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