© Lucia Elser, 1987

Über 350 Mal auf dem Matterhorn

100 Jahre Zeitlupe Wir haben ein Porträt über den legendären Walliser Bergführer Ulrich Inderbinen aus dem Jahr 1987 ausgegraben. Es beginnt mit: «Vielleicht ist er der älteste Bergführer von Europa, der noch Viertausender besteigt! Was soll’s?»

Dieser Text von Franz Kilchherr ist erstmals 1987 in der Zeitlupe erschienen. Ulrich Inderbinen sollte noch 17 Jahre weiterleben, bevor er mit 103 Jahren – und 371 Matterhornbesteigungen – in Zermatt verstarb.

Vielleicht ist er der älteste Bergführer von Europa, der noch Viertausender besteigt! Was soll’s? Für Ulrich Inderbinen ist es wichtiger, dass die Leute mit seiner Arbeit zufrieden sind, er ihnen durch seine Führung eine Freude machen kann, denn immer noch kommen die Leute zu ihm, verlangen seine Arbeit.

87 Jahre ist er alt, er wurde als drittes Kind zur Jahrhundertwende geboren, am 3. Dezember 1900 genau. Insgesamt waren sie neun Geschwister, sechs Mädchen und drei Knaben. Die Jugend Im Winter wohnte die Familie in der sogenannten Winterwohnung in Zermatt, im Haus Vispa, das sich neben der eigentlichen Vispa, dem Dorfbach, fast majestätisch hoch erhebt. Seinem Vater gehörte die Wohnung im ersten Stock. Darin wohnten sie von Weihnachten bis Ende April. Der Familie Inderbinen gehörten vier Kühe, ab und zu war ein Jungtier dabei, und Schafe und Hühner. Mit diesen Tieren zog die Familie dem «Futter» nach – im Frühjahr zuerst nach Blatten, dann noch höher hinauf auf Zmut. Anderthalb Monate, bevor sie wieder ins Tal zogen, mussten die Kinder, welche die Schule besuchten, von der Sommerwohnung aus eine halbe Stunde ins Dorf zur Schule steigen. Am Abend war der steile Weg beschwerlicher, dreiviertel Stunden waren sie dann unterwegs. Ulrich Inderbinen half bis 1933 zuhause mit, Arbeit gab es in Hülle und Fülle in der Landwirtschaft. Neben der Pflege ihrer Tiere pflanzten sie Kartoffeln und zogen den widerstandsfähigen Roggen.

Im Winter: Auf der Suche nach Arbeit

In den Wintermonaten suchte er auswärts Arbeit: Zermatt war zu Anfang unseres Jahrhunderts ein Dorf von etwa 600 Einwohnern. Der Ertrag aus der Landwirtschaft gab gerade das Nötigste zum Leben her. Mit achtzehn Jahren schon ging er zu Fuss nach Visp und liess sich in St-Maurice beim Bau der militärischen Festung als Handlanger anstellen. Auch die nächsten Winter über arbeitete er im Stollen, in Amsteg, in Gurtnellen. Eine Lehre konnte er keine machen: Die Menschen in diesen Bergdörfern hatten genug damit zu tun, sich selber über die Runden zu bringen, jeder musste, so bald er konnte, mithelfen, Geld zu verdienen.

1925: Bergführerkurs

Etwas konnte jedoch Ulrich Inderbinen: Durch die Arbeit gezwungen, war er gewohnt, sich in den Bergen zu bewegen. Er absolvierte 1925 einen zweiwöchigen Kurs als Bergführer in Siders. Es kam immer mehr in Mode, dass «man» auf die Berge stieg und sich dazu einem Bergführer anvertraute. Das brachte zusätzlichen Verdienst ins Bergdorf. In diesem zweiwöchigen Kurs war er aber nicht der einzige Teilnehmer aus Zermatt, unter den etwa 50 Kursabsolventen stammten allein 20 aus seinem Heimatdorf – die Not trieb viele in die Bergführer-Kurse. Und alle mussten sie sich als Bergführer in die Arbeit «teilen». In der Bahnhofstrasse von Zermatt warteten sie auf Bergsteiger, die nach einem Bergführer verlangten. Manchmal standen bis zu hundert in den 20er-Jahren dort: Nicht nur die einheimischen Bergführer wollten etwas verdienen, auch die aus den Nachbargemeinden Täsch und St. Niklaus boten sich den Bergsteigern an. Deshalb musste man froh sein, wenn man zwei Mal pro Woche wenigstens eine Tour führen konnte. Heute gibt es in Zermatt etwa 40 Bergführer, von denen – wie sich Inderbinen ausdrückt – die Jungen auch Skilehrer sind. Sie sind nicht mehr darauf angewiesen, in der Bahnhofstrasse auf Kundschaft zu warten, das Verkehrsbüro ruft sie per Telefon zur Arbeit. Eigentlich wäre dies sehr praktisch, meint Ulrich Inderbinen. Er besitzt kein Telefon, er möchte nicht durch ein solches Ding gestört werden. Zwar hat er deshalb schon einige Aufträge nicht erhalten, doch wer von ihm etwas will, muss zu ihm kommen.

Der Bergführer

Und die Bergsteiger kommen zu ihm, Kollegen seit vielen Jahren, Bergsteigerfreunde, die mit ihm auf die Berge steigen und die ihn auch einmal zu sich einladen: in Berlin, in Frankfurt konnte er sie schon besuchen. Zwar ist er immer noch Bergführer, doch macht er nur noch «die kleineren Sachen, die ich verantworten kann». Letztes Jahr führte er noch Touren auf den Mönch, die Jungfrau, die Bernina. Dieses Jahr war er schon auf dem Breithorn und auf der Diavolezza und mit den Skis auf dem Gran Paradiso. In seinen jungen Jahren kletterte er leidenschaftlich gerne am Younggrat, am Zmuttgrat, Rothorngrat, Viereselsgrat und anderen schwierigen Spezialrouten der Zermatterberge.

Ulrich Inderbinen ist nicht sehr grossgewachsen, hat braungebrannte Haut, einen mächtigen, hängenden Schnurrbart und ist nie ohne eine Kopfbedeckung anzutreffen. Seine Augen schauen aufmerksam umher, man hat den Eindruck, sie würden immer lächeln. Und doch, auf allen Fotos blickt er ernst und mit immer gleicher Pose. Anscheinend hat die Technik noch nicht von ihm Besitz ergriffen, distanziert nur nähert er sich ihr.

Als ich das erste Mal mit ihm in Kontakt kommen will, tauchen Schwierigkeiten auf: Die Gassen und Strassen in Zermatt haben keine Namen, die Häuser keine Nummern. Deshalb begleitet mich jemand vom Verkehrsbüro zu seiner Wohnung – es stellt sich nachher heraus, dass man selbst in Zermatt nicht genau weiss, wo er wohnt. Wie ich ihn finde, ist er im Keller beim Sägen. Wie ich später von ihm erfahre, holt er das Holz im Winter mit dem Schlitten aus dem Wald. Er ist darauf angewiesen, denn hier dauern die Winter sechs Monate, in diesem Jahr sogar sieben.

Wir steigen in seine Wohnung im ersten Stock – er bewohnt sie mit seiner Tochter Maria – und besprechen unseren Ausflug vom nächsten Tag. Eigentlich war eine kleine Tour auf das Breithorn vorgesehen. Anscheinend traut er mir Stadtmenschen diese nicht zu, und so fahren wir mit der Seilbahn stattdessen auf das Kleine Matterhorn.

Heute fährt er Skirennen

In seiner Wohnung fallen viele Pokale ins Auge. Seit einiger Zeit fährt Ulrich Inderbinen auch Skirennen, er betont, dass er nie Skilehrer war, sondern nur Skiführer. Da es in seiner Kategorie nicht viele Fahrer gibt, erringt er meistens den Sieg, obwohl es kürzlich in Österreich so viel Nebel hatte, dass man nicht einmal mehr die Spuren im Schnee sah.

Ulrich Inderbinen hatte früher in den Zwischensaisons die verschiedensten Berufe ausgeübt. Zum schon erwähnten Handlanger in den Stollenbauten von militärischen Festungen kommen ‹ Arbeiten beim Förster hinzu, ebenfalls hat er einige Male im Elektrizitätswerk gearbeitet. Auch heute noch ist er froh, dass er ab und zu etwas verdienen kann: Im Laufe seines Lebens hat er eben nicht viel für seine AHV einzahlen können, und so bleibt auch seine Rente niedrig. Die Altersgrenze bildete in seinem Leben keinen Einschnitt, er arbeitete ohne zu verweilen weiter, und so kam es wohl auch, dass er nicht empfand, alt zu werden, sondern nur älter.

Er liebt seine Berge

Ulrich Inderbinen ist sich seiner Grenzen durch seine Berge bewusst geworden, er liebt seine Berge, die ihn lehrten, nicht zu übertreiben, massvoll zu leben, vorsichtig ein Ziel anzugehen. Vom Gipfel des Kleinen Matterhorn herab zeigt er mir nicht stolz, eher vertraut, als wären es seine Freunde, seine Berge ringsum, den tiefen Taleinschnitt mit Zermatt.

Die Berge haben ihn geformt: noch heute trainiert er in seinen Bergen. «Man muss am Ball bleiben, immer etwas tun, einigermassen solid leben», lautet sein Rezept für seine Fitness. Hat er keine Arbeit, so fährt er schnell aufs Kleine Matterhorn und besteigt, damit er nicht aus der Übung kommt, das Breithorn oder fährt die herrliche Sommerpiste auf den Skis hinunter. 1982 stieg er zum letzten Mal aufs Matterhorn – «Zuoberst ist es mir dort zu gääch!» -, 1984 führte er noch auf den Mont Blanc. Und letztes Jahr hatte er ein eigenartiges Erlebnis: Er, 86-jährig, führte einen Bergsteiger, der 84 Jahre alt war, aufs Breithorn. Und da musste er doch langsam vorwärtsgehen …

Dankbar ist er für seine Gesundheit: «Man kann nicht alles selber machen, man kann dazu nur etwas beitragen!» Als sein höchstes Gut schätzt er seine Gesundheit und die Möglichkeit zu «laufen». So wundert es eigentlich kaum, dass er, angesprochen auf einen Wunsch, den er sich in nächster Zeit erfüllen möchte, sagt, dass er einmal in die Ferien gehen möchte, ins Südtirol, in die Dolomiten zum Wandern.


zeitlupe.ch/100

Beitrag vom 19.07.2023

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