Die Teufel von Ringwil
Im Jahr 1966 schlugen religiöse Fanatiker im Zürcher Oberland die 17-jährige Bernadette Hasler tot, weil sie angeblich vom Teufel besessen sei. Der Fall sorgte international für Entsetzen.
Interview: Claudia Senn
Stephan Rey, Sie haben einen der schauerlichsten Fälle der schweizerischen Kriminalgeschichte ausgegraben und ein Buch darüber geschrieben: die Teufelsaustreibung von Ringwil. Gibt es einen besonderen Grund, warum Sie sich für dieses Thema interessieren?
Ich habe Verwandtschaft im aargauischen Hellikon, dem Ort, wo das Opfer des Verbrechens herkam und auch die Haupttäter einige Zeit wohnten. Meine Grossmutter trug sogar denselben Nachnamen wie Bernadette Hasler. Als ich mich im Dorf nach den Ereignissen erkundigte, stiess ich auf eine Mauer des Schweigens. «Das ist Vergangenheit», sagten die Leute, «das interessiert uns nicht mehr».
Die Menschen wollen lieber verdrängen, was damals passiert ist?
Vermutlich. Ich begann im Internet zu recherchieren, fand Gerichtsakten, psychiatrische Gutachten, Auszüge aus dem Bundesarchiv, Berichte des Schweizer Fernsehens, Artikel aus unzähligen Zeitungen, bis hin zur «New York Times». Der «Blick» berichtete damals täglich über den Prozess. Die Teufelsaustreibung von Ringwil war wohl der erste grosse Boulevard-Kriminalfall der Schweiz.
Die Hauptangeklagten waren zwei Deutsche: der 63-jährige Josef Stocker, ein exkommunizierter katholischer Priester, sowie die 55-jährige Magdalena Kohler, Stockers Assistentin und Mätresse. Was waren das für Menschen?
Beide kamen aus streng religiösem Elternhaus. Im psychiatrischen Gutachten stand, Stocker habe bis weit in die Schulzeit eingenässt. Über Magdalena Kohler sagten ehemalige Schulkolleginnen, sie habe nicht ein einziges Mal gelacht. Schon früh hielt sie sich für das Sprachrohr Gottes, ähnlich wie später Uriella. Mit Josef Stocker tat sie sich deshalb zusammen, weil er kein moderner «Lari-Fari-Priester» war, sondern alttestamentarisch streng. Genau wie Magdalena Kohler geisselte er sich regelmässig selbst und trug einen Nagelgurt um den Körper. Das imponierte ihr.
Die beiden liessen sich von ihren Jüngern mit «Heiliger Vater» und «Heilige Mutter» ansprechen und prophezeiten den baldigen Weltuntergang. Als herauskam, dass sie Spenden veruntreuten, wurden sie von der Polizei zur Fahndung ausgeschrieben und fanden bei der Familie des späteren Opfers in Hellikon Unterschlupf. Wie kommt es, dass sie mit ihrer kruden Botschaft Erfolg hatten?
Stocker und Kohler hielten ihre Jüngerschaft in ständiger Angst. Jedes Gewitter deuteten sie als Zeichen für den unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang. Ihr Gott war kein liebender, sondern ein strafender, rachedurstiger, der jederzeit zuschlagen konnte. Für grossen Zulauf sorgte zudem die Dritte im innersten Kreis der Sekte: die Nonne Stella, die angeblich einen direkten Draht zu Jesus hatte. Ihre Heilands-Botschaften wurden in sieben Sprachen übersetzt und sogar vom Vatikan beglaubigt. Mit der Zeit klangen sie jedoch immer bizarrer. Stocker und Kohler lebten in Saus und Braus, tranken kübelweise Sekt, schafften einen teuren Mercedes an – alles angeblich auf Befehl von Jesus höchstpersönlich. Ja, sogar die Wandfarbe des Hauses habe der Heiland ihr befohlen, behauptete Stella. Als Psychiatrie-Fachmann würde ich sagen: sie war wohl schizophren.
«In fast jeder psychiatrischen Klinik gibt es jemanden, der sich für Jesus hält.»
Sie arbeiten hauptberuflich als Psychiatrie-Pfleger. Wie häufig treffen Sie auf Patienten, die unter einem religiösen Wahn leiden?
In fast jeder Klinik gibt es jemanden, der sich für Jesus hält. Bei psychotischen Patientinnen ist Maria sehr beliebt. Gefährlich sind solche Leute in den seltensten Fällen. Gibt man ihnen die richtigen Medikamente, fühlen sie sich bald wieder besser. So war es vermutlich auch bei Stella. Beim Prozess gab sie zu, dass ihre Heilands-Botschaften Humbug waren. Inzwischen hatte man sie wohl medikamentös behandelt.
Waren auch Josef Stocker und Magdalena Kohler krank, oder wollten sie bloss ihre Anhängerschaft finanziell ausbeuten?
Anfangs glaubten wohl beide, auf dem richtigen Weg zu sein. Sie sehnten sich nach einer Belohnung Gottes für die erlittenen Mühen. Bei Josef Stocker war vielleicht ein gewisses Kalkül mit im Spiel. Vor Gericht zeigte er zumindest in Ansätzen Einsicht und Reue. Er sagte, er habe begriffen, dass er zu weit gegangen sei und nun ins Gefängnis komme. Magdalena Kohler jedoch war bis zu ihrem Tod felsenfest davon überzeugt, sie habe das richtige getan und werde von Gott freigesprochen.
«Die Tat wurde als unfassbar grausam empfunden.»
Wie kam es zu dem Gewaltexzess, bei dem Bernadette Hasler starb?
Wie alle Kinder der Sektenmitglieder lebte Bernadette im sekteneigenen Kinderheim in Singen, geführt von Magdalena Kohlers Schwester, einer ebenfalls sehr verhärteten Frau. Dort machte die 17-jährige Probleme, weil sie sich eingesperrt fühlte. Man warf ihr «unmoralisches Verhalten» vor, behauptete, dass sie vor einem Heilandsbild masturbiere und einen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe. Stocker und Kohler wiegelten ihre Anhänger gegen die «Teufelshure» auf. In einem Chalet in Ringwil, im Zürcher Oberland, das die Jüngerinnen und Jünger von Kohler und Stocker für die beiden gekauft hatten, prügelten sie gemeinsam mit vier Anhängern eine Stunde lang wie besessen auf das Mädchen ein und schrien: «Weiche, du Satan!». Das gerichtsmedizinische Gutachten kam später zum Schluss, Bernadette sei an einer Fettembolie in der Lunge gestorben, weil die Schläge so massiv waren, dass sich ihr Unterhautfettgewebe verflüssigt hatte.
Was für ein Echo löste der Fall bei der Bevölkerung aus?
Ein riesiges, auch international. Die Tat wurde als unfassbar grausam empfunden. Während des Prozesses drei Jahre später war die Zuschauertribüne stets voll, und vor dem Gerichtsgebäude versammelten sich hunderte von Menschen aus ganz Europa, die sich darüber empörten, dass die Anklage nicht auf Mord lautete, sondern bloss auf vorsätzliche schwere Körperverletzung mit Todesfolge.
Wie lebten die Eltern von Bernadette Hasler damit, dass sie ihre Tochter den Tätern ausgeliefert hatten?
Zwei Jahre nach Bernadettes Tod gaben sie im Schweizer Fernsehen ein Interview. Darin sagte der Vater, ihn treffe keine Schuld. Die Mutter sagte, dadurch, das Bernadette «ihr Leben geopfert» habe, seien ihr die Augen aufgegangen, und sie habe begriffen, dass sie die Sekte verlassen müsse. Ich fand diese Aussagen sehr merkwürdig. Nach heutigem Recht würden wohl auch die Eltern verurteilt, denn der Vater musste sein totes Kind heimholen, um den Verdacht von den «Heiligen Eltern» abzulenken. Der herbeigerufene Arzt realisierte allerdings sofort, dass Bernadette einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war.
Was wurde aus den beiden Haupttätern?
Beide wurden zu zehn Jahren Zuchthaus und 15 Jahren Landesverweis verurteilt. Josef Stocker starb während der Haft. Magdalena Kohler ging nach ihrer Entlassung nach Singen und scharte in ihrer «Arche Noah», dem ehemaligen Kinderheim, ihre letzten Anhänger um sich. 1988 wurde sie in Deutschland ein zweites Mal verurteilt, weil sie ihre Haushälterin totgeschlagen hatte – wieder bei einer Teufelsaustreibung.
Hatten die Behörden nicht erkannt, wie gefährlich sie noch immer war?
Nein, denn sie war ja inzwischen schon ziemlich betagt. Man glaubte, dass von ihr keine Gefahr mehr ausgehe. Erst nach dem zweiten Mord kam sie in die forensische Psychiatrie, wo sie Anfang der 90er-Jahre starb. Heute liegen Josef Stocker, Magdalena Kohler sowie deren Schwester in einem Familiengrab auf dem Waldfriedhof in Singen. 25 Jahre lang wurde es von einer Gärtnerei gepflegt. Seither verwahrlost es und soll demnächst aufgelöst werden.
In Ihrem Buch verknüpfen Sie die wahre Geschichte der Teufelsaustreibung von Ringwil mit dem Schicksal einer fiktiven Holocaust-Überlebenden, die den Überfall der Hammas miterleben muss. Warum? Das erschliesst sich mir nicht ganz.
Da sind Sie nicht die einzige. Dieses Feedback habe ich von verschiedenen Seiten gehört. Beide Geschichten verbindet, dass jemand Opfer von religiösem Fanatismus wird. Heute würde ich das Buch aber anders schreiben und mich als Ergänzung zu dem Fall in Ringwil mit dem Thema Teufelsaustreibungen in der Gegenwart befassen. Für die zweite Auflage habe ich ein Zusatzkapitel dazu geschrieben. Die katholische Kirche praktiziert nämlich bis heute Teufelsaustreibungen. Bloss nennen sich die Teufelsaustreiber nicht mehr Exorzisten, sondern Befreier. Ich finde das problematisch, denn die meisten Menschen, die glauben, vom Teufel besessen zu sein, leiden in Wirklichkeit unter einer Psychose. Solange der Priester keine medizinische Fachperson bezieht, verhindert er, dass die Menschen die Hilfe bekommen, die sie in Wirklichkeit brauchen.
Stephan Rey: Warum? Bookmundo-Verlag, 188 Seiten, ca. 21.90 Franken. www.stephanrey.ch
- Lesen Sie auch unseren Beitrag über das Attentat von Luxor, einen anderen Kriminalfall, der die Welt bewegte.