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Den Vierwaldstättersee im Herzen

Als Mädchen durfte Margrit Warth-Kempf 1947 aus Brunnen SZ am Umzug des Rosenfestes in Weggis mitlaufen. An ihre Kindheit und Jugend am Vierwaldstättersee erinnert sie sich gern zurück. Ihr Vater war der letzte Posthalter in Hertenstein. Und seine Tochter trat trotz anderer Pläne in seine Fussstapfen.

Das Rosenfest am ersten Juliwochenende war für uns in Weggis immer der Höhepunkt des Jahres. Es begann mit verschiedenen Bällen am Samstagabend, zu denen Live-Formationen aufspielten. Als Kind bewunderte ich die eleganten Autos, die aus der ganzen Schweiz vorfuhren, die Frauen in ihren Abendroben und die Männer in schwarzen Fräcken und Anzügen. Nach dem Feuerwerk wurde um Mitternacht die Dame, die von ihren Verehrern am meisten Rosen erhalten hatte, zur Rosenkönigin gekürt.

Alle paar Jahre zog zudem ein Umzug mit wunderschönen Rosenwagen durchs Dorf. 1947 durfte ich als Blumenmädchen mitlaufen. In meinem hellblauen Kleid und den weissen Erstkommunions-Schuhen fühlte ich mich wie eine Prinzessin. Alle beneideten einen um diese Ehre. Nicht zuletzt weil wir viel Feines zu essen erhielten – so kurz nach dem Krieg noch ein Luxus.

Betrachte ich das Foto, auf dem ich ganz rechts stehe, erinnere ich mich an die strenge Frau Keller, die uns Kinder beaufsichtigte. Vergeblich wehrten wir Mädchen uns gegen die Frisuren mit den Schnecken über den Ohren. Viel lieber hätten wir unser Haar offen getragen.

Der Krieg prägte die Kindheit

Schwarzweissfoto: ein kleines Mädchen mitmit Blumenkranz im Haar
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Ich kam im Juli 1940 in Weggis mitten im Krieg zur Welt. Unser Familienleben begann allerdings erst drei Jahre später: Da mein Vater als Feldpöstler bis 1943 Aktivdienst leisten musste und meine Mutter ihn vertrat, lebte ich die ersten drei Jahre bei den Grosseltern in Luzern.  

Vaters Beruf als Postbeamter und Posthalter prägte meine Kindheit. Er ging völlig in seiner Arbeit auf und arbeitete von früh bis spät. Für ihn war der Kunde König, für den er das Unmögliche möglich zu machen versuchte. Kam abends noch eine Expresssendung an, stellte er diese umgehend zu.

Am schwierigsten war für mich als kleines Mädchen, dass mein Vater auch an Heiligabend im Einsatz war. Dann lieferte er bis spätabends Torten und Blumenstöcke aus, mit denen sich die Leute beschenkten. Während die anderen Kinder am nächsten Morgen ihre Geschenke vom Christkind herumzeigten, erhielt ich meine erst einen Tag später. Dafür durfte ich meinen Vater oft auf seine Tour begleiten. Er wusste immer, wo gerade junge Hunde oder Kätzchen zum Streicheln zur Welt gekommen waren.

Sicher nicht zur Post…

Obwohl ich als Kind gern im Postbüro mit den vielen Stempeln und der alten Rechenmaschine mit der Handkurbel spielte, war mir bei der Berufswahl angesichts der Arbeitsbelastung meines Vaters klar: Pöstlerin wollte ich sicher nicht werden, sondern Krankenschwester. Doch im Spitalpraktikum bei den Diakonissen in Le Locle überforderte man mich derart, dass mich meine Eltern fast notfallmässig nach Hause holten. Mehr aus Verlegenheit absolvierte ich die Aufnahmeprüfung für die Postlehre. Ich bestand und blieb fast vierzig Jahre beim gelben Riesen.

Meine Ausbildung machte ich unter anderem in Luzern, wo ich mein Talent für Sprachen in der Filiale nahe des Löwendenkmals gut einsetzen konnte. Viele Touristen verschickten bei uns Schokolade oder Kuckucksuhren nach Übersee. Ein besonders lustiger Arbeitskollege brachte uns oft zum Lachen, weil er Kundinnen und Kunden unglaublich treffend nachahmte. Dass Emil Steinberger später berühmt wurde, wunderte niemanden im Team.

Besonders anstrengend war jeweils der fünfte Werktag im Monat, wenn die Pöstler die AHV-Gelder austrugen. Schon frühmorgens zählten wir die passenden Noten ab. Viele Rentnerinnen und Rentner mussten ihr Geld genau einteilen und standen erwartungsvoll am Gartenzaun. Verzögerte sich die Verteilung, läutete unser Telefon Sturm. Man stelle sich das heute vor: Hunderte Pöstler unterwegs mit so viel Geld, alle wussten davon und nichts passierte… Am Schalter hatten wir es oft mit viel Geld zu tun, da damals fast alle Leute ihre Einzahlungen auf der Post vornahmen. Einmal verbuchte ich Tageseinnahmen von fast 800‘000 Franken.

Zweite Heimat Zermatt

Nach der Lehre verbrachte ich ab 1958 drei wunderbare Jahre in Zermatt, wo ich in der damals modernsten Postfiliale der Schweiz arbeitete. Ich genoss die Kameradschaft mit Postbeamten aus der ganzen Schweiz und konnte es auch gut mit den Einheimischen, vor deren unverständlicher Sprache und knorriger Art man mich in der «Üsserschwiiz» gewarnt hatte.

Dank eines guten Dienstplans konnten wir im Sommer viel wandern und im Winter fast täglich skifahren. Ich war topfit und nur eine schwere Angina verhinderte, dass ich sogar das Matterhorn bestieg. Arbeit, Sport und Ausgang prägten diese Zeit. Heim ging ich nur selten, da die Reise per ÖV nach Weggis damals fast neun Stunden dauerte.

Am liebsten war mir der Dienst abends bis 22 Uhr. Viele berühmten Stammgäste aus den USA führten um diese Zeit ihre Gespräche mit der Heimat. Beim Warten auf die Verbindung, was manchmal bis zu einer Stunde dauerte, ergaben sich interessante Gespräche, die später in einer Bar weitergingen. So lernte ich etwa Walt Disney kennen. Dank eines Arbeitskollegen, der auch als Skilehrer tätig war, verbrachten wir in der Suite von Ex-König Faruq von Ägypten und seinen Töchtern Abende wie aus 1001 Nacht.

Mit der niederländischen Prinzessin Beatrix fuhr ich mehrmals Skilift. Wahrscheinlich damit sie niemand erkannte, trug sie Skihosen, die sogar mir zu abgetragen gewesen wären. Die Post, die ihre Mutter, Königin Juliana, für die Regierungsgeschäfte brauchte, lieferte jeweils ein Hubschrauber. Und über die Affären eines gewissen Prinzen wussten wir von der Post längst vor der Klatschpresse Bescheid: Seine heimlichen Telefonate führte er jeweils bei uns statt im Hotel.

Einmal durften einige aus unserem Team bei einem Louis-Trenker-Film als Statisten mitspielen. 100 Franken Gage gab dies, damals sehr viel Geld. Noch vor Sonnenaufgang brachte uns der Helikopter auf den Gornergletscher, wo ich furchtbar fror in meinem historischen Kostüm, das mir viel zu eng und hinten offen war. Stundenlang drehten wir wieder und wieder die gleichen Szenen – die letztlich im Film eine knappe Minute dauerten.

Ein Parkplatz-Problem mit Folgen

Meinen zukünftigen Mann lernte ich am Bahnhof Luzern kennen, weil ich meinen alten VW in der Eile so in eine Parklücke quetschte, dass er nicht mehr in sein Auto steigen konnte. Ich entschuldigte mich und riet ihm, es doch über die Beifahrerseite zu versuchen. Dies tat der sportliche junge Mann, verlangte aber als Gegenleistung einen Kaffee mit mir. So begann unsere gemeinsame Geschichte.

Wir teilten die Leidenschaft fürs Wandern und fürs Reisen und sind weit herumgekommen. Vor allem die arabische Welt hatte es uns angetan. Falls es tatsächlich eine Reinkarnation geben sollte, verbrachte ich dort wohl ein früheres Leben. Auf unserer Hochzeitsreise nach Tunesien schenkte mir mein Mann zwei orientalische Parfümfläschchen. Unterdessen umfasst meine Sammlung 187 Stück. Staube ich sie sorgfältig mit dem Pinsel ab, schwelge ich in Erinnerungen.

Wenige Jahre nach der Geburt unserer Tochter stieg ich wieder bei der Post ein. Es herrschte Personalmangel und ich konnte arbeiten, so viel ich wollte. Etwa 70‘000 Kundinnen und Kunden habe ich über all die Jahre bedient, schätze ich. Da man früher noch Zeit für einen Schwatz hatte, wusste ich viel über ihr Leben und ihre Sorgen. Umgekehrt kannten auch mich alle. Als «Fräulein von der Post», wie man mich auch längst nach meiner Heirat noch nannte, stand man unter ständiger Beobachtung. Erst kürzlich, bald zwanzig Jahre nach meiner Pensionierung, begrüsste mich jemand in einem Restaurant mit diesem «Titel».

Die Post als Gemischtwarenladen

Als die Post plötzlich auch ein Kiosk sein sollte, verging mir die Freude an meinem Beruf. Es fing mit Schreibmaterial und Paketen an, später sollten wir den Kundinnen und Kunden auch Globibücher, Gartenschläuche oder falsche Wimpern verkaufen. Dies ging mir völlig gegen den Strich. Es widerstrebte mir, einer Kundin, von deren knapper Finanzlage ich wusste, eine Luxus-Papeterie anzudrehen. Oder die Leute zu fragen, ob sie vielleicht eine Katze hätten und von unserer Katzenfutteraktion profitieren wollten…

Als ich mich wehrte, beschied man mir, ich sei eine «Altlast ohne Verständnis für modernes Management». Dabei sagten mir viele – Kundschaft, Mitarbeitende und sogar mein direkter Chef – sie empfänden wie ich. Zum Glück war ich nicht auf die Arbeit angewiesen und kündigte. Ich bin froh, dass ich meine Meinung laut und deutlich sagte. Trotzdem ist ein solcher Abgang nach so vielen Jahren schade.

Vom Aufräumen und Loslassen

Jetzt lebe ich bereits seit 55 Jahren in Brunnen und bin seit 9 Jahren Witwe. Im Coronawinter 21/22, als man kaum etwas unternehmen konnte, schrieb ich meine Lebenserinnerungen nieder. Geschrieben habe ich immer schon gerne und verfasste in der Schule jeweils gleich für mehrere Klassenkameraden die Aufsätze. Auch meine 24 Reisetagebücher habe ich wieder gelesen und all die Erlebnisse Revue passieren lassen. Nun bin ich daran, aufzuräumen und loszulassen. Statt grosse Reisen zu unternehmen, schaue ich Dokumentationen im Fernsehen. Auch z’Berg gehe ich wegen meiner Arthrose im Knie nicht mehr.

Im Sommer schwimme ich jeden Morgen mehrere Kilometer im nahen Lauerzersee. Wasser ist mein Element, vielleicht weil ich am Vierwaldstättersee aufgewachsen bin. Wenn ich mit dem Kursschiff an Weggis vorbeifahre und unser altes Posthäuschen in Hertenstein direkt neben der Schiffsstation sehe, empfinde ich bis heute ein bisschen Heimweh.

Aufgezeichnet von Annegret Honegger

Mehr Porträts aus früheren Zeiten unter zeitlupe.ch/anno-dazumal

Beitrag vom 09.08.2022

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