© ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Biobauer auf neuen Wegen

Fürs Demonstrieren hatte Biobauer Werner Scheidegger 1968 keine Zeit. Die Kühe wollten gefüttert und gemolken werden. Im Nachhinein erachtet er den Biolandbau als Protestbewegung gegen die offizielle Lehrmeinung der landwirtschaftlichen Schulen. 

1968 war unser drittes Kind unterwegs, und ich bereitete mich auf die Meisterprüfung vor. Mich beschäftigte zwar, dass in Prag die Menschen «Dubček-Svoboda» skandierten. Aber grölende Studenten in Zürich interessierten mich nicht. Die Kühe wollten gefüttert und gemolken werden. Ich hatte keine Zeit, um auf die Strasse zu gehen. Rock ’n’ Roll war nicht meine Musik, antiautoritäre Erziehung sah ich als Sackgasse. Aber ich hatte eine Vision: Zusammen mit gleich gesinnten Jungbauern suchte ich nach Alternativen zu einer Landwirtschaft, die nicht mehr ohne Chemie auszukommen schien. 

Ich war einziges Kind, einziger Nachfolger auf einem mittleren Bauernbetrieb im Oberaargau. Begeistert las ich die Schriften des Biologen Dr. Hans Müller, der zusammen mit seiner Frau Maria als Pionier den biologischen Land- und Gartenbau pflegte und lehrte. Hans Müller wurde mein Vorbild, mein Mentor und mein Lehrer. Durch ihn wurde ich überzeugter Verfechter des Biolandbaus. Die nachhaltige Bewirtschaftung des Bodens war für ihn das höchste Ziel. «Nur Leben schafft Leben», pflegte er zu sagen. Und: «Mit Gift kann man Leben nicht fördern.» Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Kunstdünger und Pestizide auf den Markt gekommen und wurden in Massen angewendet. Mein Vater war der Erste, der die von der landwirtschaftlichen Genossenschaft angeschaffte Spritze zur Unkrautbekämpfung im Einsatz hatte – das hat er oft erzählt. Er war aber auch der Erste, der wieder darauf verzichtete und sich damit gegen den herrschenden Trend stellte. Wir galten als krasse Aussenseiter. Von landwirtschaftlichen Schulen wurden wir ausgelacht. Man hielt uns vor, wir würden einer Modeerscheinung aufsitzen. 

Ein Rüeblifeld mit Herbiziden zu jäten, dauert eine Stunde; von Hand dauert es ein Vielfaches. Ich hatte gar nicht die Zeit, die 68er-Bewegung zu verfolgen, und wusste auch nicht recht, wogegen die Studentenschaft eigentlich demonstrierte. Erst im Nachhinein wurde mir bewusst, dass der Biolandbau eigentlich eine Protestbewegung innerhalb der gängigen Lehre der Landwirtschaft war. Einen Hof ohne Chemie zu bewirtschaften, war bereits genug der Demonstration. 

1969 starb Maria Müller. Erst da zeigte sich, dass eigentlich sie die Triebfeder hinter dem biologischen Land- und Gartenbau gewesen war. Von nun an blieb der fachliche Ansporn aus. Wir, eine Gruppe Jungbauern, alle mit Meisterprüfung und engagiert, wollten uns aktiv in die Bewegung einbringen. Das mochte Hans Müller, damals schon über achtzigjährig, nicht. Er hatte Angst vor der jungen Konkurrenz und vergraulte jeden, auch ausgewiesene Fachleute, die sein Lebenswerk fortführen und weiterentwickeln wollten. 

Der Weg zu Bio Suisse

Das heutige Seminarhotel Möschberg im bernischen Grosshöchstetten gilt als Wiege des biologischen Landbaus im deutschsprachigen Raum. 1932 wurde es als «Bauernheimatschule » und «Hausmutterschule » eröffnet; mit der Leitung wurden der Agrarwissenschaftler Hans Müller und seine Frau Maria Müller-Bigler betraut. Das Paar leistete Pionierarbeit: Bereits im ersten Betriebsjahr waren Biolandbau und Vollwerternährung feste Bestandteile des Lehrplans. 1974 nahm das Forschungsinstitut für biologischen Landbau FiBL seine Arbeit auf, sieben Jahre später wurde die Vereinigung Schweizerischer Biologischer Landbauorganisationen VSBLO gegründet. Als ihr erster Präsident amtete der Madiswiler Biobauer Werner Scheidegger. 1997 wurde aus der VSBLO die Marke Bio Suisse, sie erreichte 2002 mit ihren Knospe-Produkten die erste Milliarde Franken Umsatz. Heute arbeiten über 6000 landwirtschaftliche Betriebe nach Bio- Suisse-Richtlinien: Nachhaltigkeit, artgerechte Tierhaltung und der Verzicht auf chemische Pflanzenschutz- und Düngemittel stehen im Zentrum.

So richtete sich unser Protest schliesslich auch gegen unseren Patron, den wir so bewundert, geschätzt und bis zuletzt immer nur mit «Herr Doktor» angesprochen hatten. Seine Autorität akzeptierten wir vorbehaltlos, aber dass er sie einzig um der Autorität willen einforderte, dagegen wehrten wir uns. Darin sehe ich gewisse Parallelen zu den jungen Rebellen in den Städten. Hans Müller liess nicht mit sich reden. 

Darum gründeten wir – altersmässig konnten wir Jungbauern alle seine Enkel sein – die Biofarm Genossenschaft und initiierten Projekte zur Weiterentwicklung  der biologischen Landwirtschaft. 1974, als das  Forschungsinstitut für biologischen Landbau seine Arbeit aufnahm, schlossen wir uns sofort mit ihm zusammen und bildeten gemeinsame Arbeitsgruppen. 

Ich bin nie von meinem biologischen Weg abgekommen, und die Geschichte bestärkt mich in meiner Überzeugung: Inzwischen ist Biolandbau ein fester Bestandteil der Landwirtschaft geworden; überall gibt es Bioberater und entsprechende Vorträge und Kurse. Der Dialog zwischen Forschung, traditioneller Landwirtschaft und Bioland- und -gartenbau findet permanent statt, und etwa 13 Prozent aller Bauernbetriebe sind inzwischen Biobetriebe. Hans und Maria Müller und unsere Generation von Biobauern haben dazu beigetragen, dass heute mit Dünger und Pestiziden verantwortungsvoller umgegangen wird als früher. 

Man denke nur zum Beispiel an den Einsatz von DDT, dessen Erfinder sogar den Nobelpreis gewann. Erfolgreich bekämpfte man damit die Malariamücke, bis man merkte, dass in der Nordsee die Vögel unfruchtbar werden: Das Gift hatte sich über das Wasser weiter verbreitet. Man fand es sogar in der Muttermilch. Oder Nitrat im Salat … 

Und dann die Diskussion über Glyphosat, das verboten werden soll. Solche Entwicklungen bestätigen mir und gleich gesinnten Bäuerinnen und Bauern, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Man wird als Biobauer zwar nicht reich, aber man geht auch nicht unter, wie vielfach prophezeit wird. 

Zur Person

Werner Scheidegger, geboren am 11. März 1936, übernahm in Madiswil BE den elterlichen Bauernhof und wandte sich von Anfang an dem Biolandbau zu. 1972 gründete er mit Gesinnungsgenossen die Selbsthilfeorganisation Biofarm Genossenschaft und übernahm deren Geschäftsführung. 1990 verpachtete er den Hof und engagierte sich fortan vollamtlich für die Biofarm Genossenschaft. Er gab Kurse und hielt Vorträge zum Thema biologische Landwirtschaft. Werner Scheidegger ist verheiratet, hat drei Töchter und schreibt in seiner Freizeit Bücher.Das

Geschichten von anno dazumal

Buchcover: Das waren noch Zeiten Band 6

Miniröcke und Flower Power, Schulreformen, Popmusik und Rock ’n’ Roll: 1968 und die 68er haben eine ganze Generation geprägt. Auch Zeitlupe-Leserinnen und -Leser haben in dieser bewegten Ära viel erlebt und verfügen über spannende Erinnerungen. Die Zeitlupe-Redaktion hat einige von ihnen besucht und sich im Gespräch in die vergangenen Zeiten entführen lassen, damit ihre Erlebnisse der Nachwelt erhalten bleiben.


Band 6 über die Zeit rund um 1968 sowie Band 2-5 der beliebten Buchreihe sind im Onlineshop erhältlich. 
Beitrag vom 14.07.2021

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Das könnte sie auch interessieren

Anno dazumal

Die Post ist da - seit 175 Jahren

Die Schweizerische Post feiert ihr 175-Jahr-Jubiläum. Eine Zeitreise vom Gründungsjahr 1849 bis in heutige Zeiten.

Anno dazumal

Ein Leben mit allen Sinnen

Die Leidenschaft fürs Tanzen und fürs Unterrichten prägt das Leben von Lilo Elias-Seiler aus Zürich.

Anno dazumal

Vom Wallis in die «Üsserschwiiz»

Geborgenheit und viel Arbeit prägten Anna-Luise «Sisy» Hofmann-Furrers Kindheit. Zusammen mit vier Schwestern wuchs sie im Vispertal im Wallis auf und lebt heute in Derendingen SO.

Anno dazumal

Fricktaler Turner am «Eidgenössischen» 1963

Am Turnfest in Luzern wirkten über 30000 aktive Turner mit. Einer davon: Heinz Acklin aus Herznach AG, zweite Reihe ganz links.