© Ute Schendel

«Selbstfürsorge lautet das Gebot»

Von der Wissenschaft vergessen, von der feministischen Bewegung übersehen: Trotz ihrer grossen Zahl führen Witwen in unserer Gesellschaft ein Schattendasein. Cornelia Kazis holt sie ans Licht. 

Interview Usch Vollenwyder

Kann man sich auf das Leben als Witwe überhaupt vorbereiten?
Auf diesen unglaublichen seelischen Schmerz kann man sich nicht vorbereiten. Man kann sich aber rechtzeitig um eine gesicherte Zukunft kümmern, damit zur grossen Trauer nicht auch noch finanzielle Sorgen kommen. Es lohnt sich, die Frage zu stellen: «Könnte ich das Leben, so wie wir es jetzt zu zweit führen, auch allein weiterleben?» Sonst kann zum Verlust des Lieblingsmenschen noch der Verlust der Wohnung und damit der gewohnten Umgebung kommen. Konkubinatspaaren empfehle ich einen Vorsorgeauftrag und eine testamentarische Verfügung, Frauen ökonomische Unabhängigkeit. Ich weiss, niemand denkt gerne an eine solche Situation …

Wenn sie dann doch eintrifft: Welche Persönlichkeitsmerkmale helfen, sie durchzustehen?
Die Forschung redet von resilienten Persönlichkeiten, von Menschen mit einer inneren Widerstandskraft. Das sind in der Regel extrovertierte und kontaktfreudige Männer und Frauen, die vertrauensvoll in der Welt stehen und sie auch in schwierigen Zeiten nicht als Feindin erleben. Sie können über ihre Gefühle sprechen und sich in der Not Hilfe holen. Auch die Familie kann in dieser Zeit eine wichtige Kraftquelle sein: Es ist tröstlich, wenn man das Leben in seinen Kindern und Enkeln weitergehen sieht.

Wie kann man Isolation und Einsamkeit vorbeugen?
Indem man schon längst vorher nachbarschaftliche und freundschaftliche Kontakte pflegt. Und indem man ein Eigenleben hat. Es hilft beim Übergang in den neuen Lebensabschnitt, wenn man bereits während der Ehe nicht alle Freundschaften und Hobbys miteinander geteilt hat: Man kann sie einfach weiterziehen; wenigstens an ihnen ändert sich nichts. Wer in einer symbiotischen Partnerschaft gelebt und nur aus einem «Wir» bestanden hat, hat es viel schwieriger, den Weg allein weiterzugehen.

Wie beeinflusst die Todesart das Abschiednehmen?
Seinen Liebsten nach langer Krankheit zu verlieren, erleichtert die Trauer. Ein plötzlicher Verlust hingegen ist viel schwerer zu ertragen. Ebenfalls eine Erschwernis ist der Tod nach einer fortschreitenden Krankheit wie Alzheimer: Im Laufe der Jahre wird die Betreuung intensiver, die Frauen selber werden älter, sie haben keine Zeit und Kraft mehr für sich selber und ihre sozialen Kontakte. Mit dem Tod ihres kranken Partners schliesslich verlieren sie ihren Lebensinhalt; sie sind sozial nicht mehr eingebettet und meist extrem erschöpft. Das sind schwierige Voraussetzungen für einen Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt.

Welche Rolle spielen Religion oder Spiritualität?
Der Gedanke an irgendeine Form des Weiterlebens hilft. Jedenfalls führen alle Witwen, die ich für mein Buch interviewt habe, die Beziehung zu ihrem Mann weiter. Sie reden mit ihm, sie erzählen ihm von ihrem Tag und glauben, dass er von irgendwoher zu ihnen herabschaut. Selbsternannte Psychologen geben häufig den Rat: «Du musst halt loslassen.» Dabei ist es tröstlich, mit seinem geliebten Partner auch nach Jahren innerlich noch verbunden zu sein. Und es hilft, wenn andere Menschen sich ebenfalls an den Lebensgefährten erinnern, liebevoll von ihm reden und damit zeigen, dass er auch ihnen wichtig war. Denn der Schmerz ist nie vorbei, nur seine Schwere mildert sich.

Wie kann man in dieser traurigen Zeit gut für sich selber sorgen?
In einer guten Beziehung sorgt man sich umeinander. Und plötzlich sorgt sich niemand mehr um einen. Dann lautet das Gebot der Stunde «Selbstfürsorge». Das fängt mit banalen Sachen an: Dass man lernt, für sich selber zu kochen. Dass man sich schön anzieht, für sich allein ein gemütliches Frühstück zubereitet, dass man gut riecht, dass man sich etwas Schönes kauft. Es braucht in dieser Zeit viel Geduld und Nachsicht sich selber gegenüber. ❋

Aus Zeitlupe 4/2020.

Cornelia Kazis 

ist Journalistin, Autorin und langjährige Radioredaktorin für Gesellschaftsfragen. Seit 2018 ist sie verwitwet und schrieb das Sachbuch «Weiterleben, weitergehen, weiterlieben. Wegweisendes für Witwen.» Xanthippe Verlag, Zürich 2019, 298 S., CHF 34.80.

Die Autorin wohnt in Basel; sie ist Mutter einer erwachsenen Tochter und Grossmutter von zwei Enkeln. corneliakazis.ch


  • Memento mori – sei dir deiner Sterblichkeit bewusst: In unserem Themenschwerpunkt widmen wir uns einen Monat lang Themen rund um den Tod und das Sterben. Zum Dossier.
Beitrag vom 25.03.2021

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Das könnte sie auch interessieren

Altersfragen

Demenz: Begleitung hilft

Demenz ist eine Diagnose, die viele Lebensbereiche verändert. Nicht nur die Betroffenen, sondern auch ihre Angehörigen sind gefordert.

Altersfragen

Schöne Dinge am Lebensende

Ein Bett mit einem Baldachin, autobiografische Sterbeliteratur oder Interviews mit todkranken Menschen: Die Ausstellung «Sterben gestalten» im Berner Generationenhaus wirft noch bis zum 29. April 2023 einen neuen Blick auf die letzte Lebensphase.

Altersfragen

«Ich gehe mit meiner Frau unter den Zug»

Feminizide im Alter sind oft Verzweiflungstaten. Als Partnerin des Präventionsprojekts «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» der feministischen Friedensorganisation cfd, geht die Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter UBA dieser besonderen Dynamik nach.

Altersfragen

«Ein Leben ist im Alter nicht weniger wert»

Gewalt in Beziehungen hört nicht mit der Pensionierung auf. Auch Frauen über sechzig werden Opfer eines Feminizids. Die promovierte Psychologin und Dozentin Delphine Roulet Schwab forscht zu Themen rund um Gewalt im Alter.