Wahre Schönheit trägt Gelb
Klar ist die Mirabelle eine Unterart der Pflaumen, sogar die kleinste aller Pflaumen. Aber sie ist viel mehr: nämlich eine bewundernswerte Schöne. Wie schon ihr Name sagt.
Text: Gaby Labhart
Welche Frucht darf für sich in Anspruch nehmen, einst einen Wettbewerb ins Leben gerufen zu haben, an dem gar eine Königin erkürt wird? La «Reine de la Mirabelle» wird anlässlich der «Fête de la Mirabelle» alljährlich in Metz, der «Capitale de la Mirabelle», gekrönt. Und das immerhin schon seit 1947. Mittlerweile ist auch in Lothringen die Neuzeit eingekehrt, und die Reine ist zur profanen Miss mutiert. Miss Lorraine darf dafür auch bei der Wahl der Miss France antreten.
Pflaumen gibt es überall, Mirabellen nur bei uns, sagen die Lothringer. Das stimmt natürlich nicht ganz, denn inzwischen werden die «Aprikosen der Armen» in Mittel- und Südeuropa sowie in Nordafrika angebaut. Aber die Lothringer Ernte ist immer noch die grösste: 300’000 Mirabellenbäume liefern mit etwa 20’000 Tonnen 70 bis 80 Prozent der Weltproduktion, so die Lothringer Tourismuswerbung. Und nicht umsonst tragen die feinsten und aromatischsten Mirabellensorten Lothringer Namen: die Mirabelle von Nancy und die Metzer Mirabelle. Bei uns haben die Mirabellen von August bis September Saison.
Insgesamt sind mindestens fünfzehn Sorten dieser feinen Früchtchen bekannt, darunter auch die Frühe, die Gelbe, die frühreife Flotows oder die Herrenhäuser mit grösseren Früchten. Auch Bellamira und Miragrande sind grossfruchtige Züchtungen. Aber wer die kleinen Nancy-Mirabellen oder die Metzer findet, sollte keinen Moment zögern und sofort zugreifen. Es sind die besten. Sagt nicht nur der Lothringer Tourismus.
Die Mirabelle ist eine Unterart von Prunus domestica, also der Pflaume. Und so wird sie manchmal ganz profan auch als Gelbe Zwetschge betitelt. Der Name Mirabelle, «bewundernswerte Schöne», wird ihr doch viel eher gerecht. Im Gegensatz zu ihren etwas robusteren Cousinen Pflaume und Zwetschge, die schon mit den alten Römern in unsere Gegend reisten, tauchte die kleine Feine erst Mitte des 18. Jahrhunderts in unseren Breitengraden auf.
Die goldenen Früchtchen, so süss sie auch schmecken, bieten neben viel Vitamin C ein breites Spektrum an B-Vitaminen. Bemerkenswert ist der hohe Gehalt an Kalium und Pektin; das Erste wirkt entwässernd, durch das Zweite wird, wie bei allen Pflaumenarten, die Verdauung angeregt.
Ja, sie sind verführerische Köstlichkeiten, aber sie sind auch empfindlich und leicht verderblich, wenn sie reif sind. Und genau deshalb nicht geeignet für die Grossverteiler, die lieber steinharte Pflaumen aus Südafrika in die Gestelle beigen. Und so ist die Mirabelle auch eine rare Freude, der man leider immer weniger begegnet. Ausser natürlich in Metz. Wo vor gut hundert Jahren einst die Reblaus an allem schuld war. Sie vernichtete Ende des 19. Jahrhunderts sämtliche Reben. Und als die Winzer ihre vergilbten Rebflächen gerodet hatten, entdeckten sie, wie gut auf diesen besonderen Kalkböden die Mirabelle gedeiht. Und vor allem: wie gut sie dort schmeckt.