Wir werden leben
Eine Familie, drei Generationen: Der Krieg in der Ukraine zwang die Familie von Evgenia Dzehemish und Mykhaylo Nevmerzhytsky, ihre Heimat zu verlassen und in die Schweiz zu fliehen. Zeitlupe-Redaktorin Jessica Prinz traf sie zum Gespräch über ihren beschwerlichen Weg, ihre Art, mit der Heimat Kontakt zu halten und den Blick nach vorne.
Ein paar Minuten vom Bahnhof St. Gallen entfernt, gleich nach der Haltestelle «Russen» und nur kurz vor dem Säntispark, steht das Gebäude der «Kirche Bild». Die evangelische Kirchgemeinde ist Teil des Baptistenverbandes. In den Räumen der Freikirche finden derzeit bis zu 16 ukrainische Geflüchtete ein Zuhause auf Zeit, einen Ort, um anzukommen, durchzuatmen und Energie zu tanken.
Unter diesen Geflüchteten sind Evgenia Dzehemish (67) und Mykhaylo Nevmerzhytsky (69), deren Tochter Vera Yatsky (36) und Enkelin Veronika (14). Vier Menschen aus drei Generationen sitzen auf einem türkisfarbenen Sofa in einem grossen Raum, an der Wand hinter ihnen erinnert eine Fussballwand an unbeschwerte Sommertage. Normalerweise spielen hier Kinder – nun wurden die Räume umfunktioniert für eine Familie, deren Geschichte sehr emotional und berührend ist. Eine von ganz vielen derzeit.
Es ist hauptsächlich die Grossmutter Evgenia, die spricht. Schnell wird sie von den anderen liebevoll als die Matriarchin bezeichnet. Und bevor irgendjemand etwas sagen kann, ist es ihr wichtig, ihre Dankbarkeit auszudrücken. «Wir sind so dankbar, dass wir hier bleiben und uns akklimatisieren dürfen. Wir fühlen uns sehr wohl hier.»
Evgenia und Mykhaylo verbrachten ihr ganzes Leben in der Ukraine. 1982 lernten sie sich kennen. Er studierter Radiotechnologe, sie Bauingenieurin. Beide arbeiteten in der Wasserzentrale von Charkiw. Kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten, heirateten sie, vier Jahre später kam Tochter Vera zur Welt. Sie blieb Einzelkind, schliesslich war es in der Ukraine eher unüblich, das erste Kind mit über 30 zur Welt zu bringen. Sobald Vera sie zu stolzen Eltern gemacht hatte, wussten sie, dass sie alles dafür geben wollen, um ihr ein gutes Leben zu bieten und eine Ausbildung zu ermöglichen, die eine sichere Zukunft verspricht.
Mykhaylo und Evgenia arbeiten unermüdlich, von morgens früh bis abends spät, suchten nach weiteren Möglichkeiten, um Geld zu verdienen. Die harte Arbeit zahlte sich aus und bis vor Kurzem zählte die Familie für ukrainische Verhältnisse zu den eher Wohlhabenden. Mykhaylo und Evgenia besassen drei Wohnungen, ein Ferienhaus und zwei Autos mit dazugehöriger Garage – was alles andere als selbstverständlich ist.
Um 5.05 Uhr begann der Raketenhagel
Der Verlust war also besonders gross, als vor bald drei Monaten plötzlich alles anders wurde. Eine der drei Wohnungen, die der Grosseltern, lag im 15. Stock eines Wohnblocks. Von dort hatte das Ehepaar alles im Blick, sie blickten bis zur russischen Grenze, die nur zwanzig Kilometer entfernt lag. So sahen sie folglich auch, wie sich die Panzer am frühen Morgen des 24. Februar der Grenze näherten. Um 5.05 Uhr begann der Raketenhagel. Unzählige Schüsse, die schon ab der ersten Stunde auch die zivile Bevölkerung trafen – ganz anders als Evgenia dies in den russischen Nachrichten gehört hatte. Dort hatte es geheissen, nur militärische Orte würden zum Ziel der russischen Truppen. Eine der vielen Unwahrheiten zum Kriegsbeginn.
Eigentlich war die Familie der russischen Seite wohlgesinnt. Sie haben Verwandte in Russland, besuchten, wie es früher üblich war, russische Schulen, sangen sowjetische Lieder. Evgenia konnte früher nie ins Bett gehen, ohne die russischen Nachrichten zu schauen und abzugleichen, wie man in den Medien des Nachbarlandes berichtete. Jedes Jahr schaute die Familie am Fernseher auch die Parade am 9. Mai – anlässlich des Sieges der Sowjetunion über Nazideutschland.
Wie Wladimir Putin, der jeweils mit dem Foto seines Vaters mitgelaufen sei, haben auch die vier Charkiwer in Gedenken an ihre Vorfahren die Parade auf dem roten Platz in Moskau verfolgt. Wie Putin wuchsen die Grosseltern mit den Büchern Puschkins auf. Und weil auch er, der nur zwei Jahre älter ist als Evgenia und Mykhaylo, ebenso ein Kind der Sowjetunion sei, konnten sie sich bis zuletzt nicht vorstellen, dass es wirklich zum Krieg kommen könnte. «Ich dachte immer, er wolle nur Angst verbreiten, um die Situation zu seinen Gunsten zu verbessern. Dass er so weit gehen würde, schloss ich immer aus», sagt Evgenia.
Veronika ist erste in der Familie, die nie eine russische Schule besucht hatte, die ganze Familie beherrscht – ganz normal – beide Sprachen: Russisch und Ukrainisch.
Am 24. Februar um 5.05 Uhr, begann der Krieg an der russisch-ukrainischen Grenze nahe Charkiw. Nur 15 Minuten später hatte die Familie ihre Taschen gepackt. Zuerst nur mit dem Nötigsten: Medikamente, Unterhosen, Dokumente … Je länger sie darauf warteten, ob das Grauen wirklich eintreffen würde, umso besser waren ihre Koffer vorbereitet. Fortan sassen sie auf gepackten Taschen, gingen weder in die Schule noch zur Arbeit. Am 3. März hielten es die vier nicht mehr länger aus: Ununterbrochen wurde die ganze Stadt zerstört, ein Quartier nach dem anderen. Sie packten alles ins Auto und fuhren Richtung Westen.
Panzerkolonnen und die Zugfahrt Richtung Grenze
Nur zwei Stunden nach ihrer Abreise erhielten sie einen Anruf, dass ihre Wohnung bombardiert worden sei und nicht mehr existiere. Die Strassen waren leer. Auf der Fluchtroute Richtung polnischer Grenze war kein ziviles Auto mehr unterwegs, auf der Gegenseite kamen ihnen nur ukrainische Militärfahrzeuge entgegen: Panzerkolonnen Richtung Charkiw. Dann: eine ungewisse Zugfahrt über die polnische Grenze, drei Tage in einem Einkaufszentrum in Polen, das lange Warten auf einen Bus Richtung Deutschland oder in die Schweiz, viele Stunden in einem kleinen Bus, eingequetscht zwischen viele Menschen.
So erreicht die Familie die Schweiz und wird von der «Kirche Bild» in St. Gallen aufgenommen. Die erste heisse Dusche nach drei Wochen, das erste Mal wieder richtig schlafen können. Hier will die Familie vorerst bleiben.
Für die Grosseltern ist die Frage, wie die nächsten Monate und Jahre aussehen sollen, sehr belastend. In der alten Heimat ist nichts mehr, hier noch nichts. Die beiden jungen Frauen, sagt das Familienoberhaupt, haben immerhin die Möglichkeit, sich hier richtig einzuleben und etwas aufzubauen. Eine Pflanze, die lange am gleichen Ort gewachsen sei, lasse sich hingegen nicht so leicht verpflanzen.
Evgenia und Mykhaylo versuchen, die Gedanken an die Zukunft, die ihnen den Schlaf rauben, zur Seite zu schieben. Evgenia meint, für die beiden jungen Frauen sei es viel einfacher, Tiefs zu überwinden und wieder zu «funktionieren». Sie und ihr Mann nähmen es viel emotionaler. Mykhaylo fühle sich, als hätte er seine Freunde und Familie verraten –, weil er hier und er Schweiz ist und es ihnen gut gehe. Das Einzige, was der Familie derzeit hilft: Sie versuchen so schnell wie möglich eine Beschäftigung zu finden. Sie nehmen Deutschkurse und unternehmen viel mit den Verantwortlichen der «Kirche Bild». Sie suchen Strukturen, um abgelenkt zu werden.
Die drei Generationen ergänzen sich gut und versuchen, sich gegenseitig Halt zu geben. Seit 18 Jahren leben sie nicht mehr zusammen. Man dürfe sich nicht zu nahe treten, einander nicht auf die Nerven gehen. Während Evgenia also den Haushalt schmeisst, kümmert sich Vera um alles, was mit den Behörden erledigt werden muss. Mykhaylo betätigt sich handwerklich und Veronika eilt überall dort zur Hilfe, wo ihr gutes Englisch gefragt ist. Und bald soll sie zur Schule dürfen.
«Wir werden leben»
Obwohl die Situation schwierig ist und immer wieder Tränen fliessen, wird auch immer wieder gelacht. Und regelmässig bimmelt irgendwo ein Handy. Ganz selten ist es Mykhaylo, der mit Evgenias Bruder telefoniert, aber sonst aus Selbstschutz so wenig Kontakt zur Heimat wie möglich hält. Manchmal ist es Veronika, die sich vor allem mit zwei geflüchteten Freundinnen in Deutschland und einer zurückgebliebenen in der Ukraine austauscht und sich über spezifische Telegram-Kanäle über die neuesten Entwicklungen informiert.
Meist ist es aber ein zweimaliges Klingeln, das Vera neue Nachrichten ankündigt. Sie verbringt viel Zeit am Handy, steht als Ärztin weiterhin in regem Austausch mit ihren Patientinnen und Patienten, telefoniert oft mit ihren Freundinnen – ein paar davon sind in der Schweiz und in Deutschland, ein paar noch in der Ukraine. Und wann immer möglich hat sie Kontakt zu ihrem Partner, der zurückbleiben musste – und wollte. Er sagt, dass er momentan an einem sicheren Ort sei. Ob das der Wahrheit entspricht oder er die Familie bloss schützen soll, ist ungewiss.
«Wir werden leben!», sagt Evgenia zum Schluss. Die Lebensqualität hänge von ihnen selbst ab. Und die Familie ist überzeugt, dass die Ukraine den Konflikt gewinnen wird. Die Frage sei nur, zu welchem Preis. «Die Schäden sind jetzt schon so gross, so viele Leute sind ausgereist – das Kapital des Landes ist damit verloren», meint Evgenia. Die Zeiten, in denen sie das russische Fernsehen verfolgt und an der Militärparade mitgefiebert habe, seien vorbei. Irgendwann werden sie vielleicht auf das Ende des Krieges anstossen. Dann aber auf den Sieg der Ukraine.
- Rund fünf Millionen Menschen sind vor den Kriegswirren der Ukraine geflüchtet. Darunter befinden sich viele ältere Menschen, so etwa der 83-jährige Mykhailo Nikonchuk. Seine Geschichte lesen Sie in der neuen Zeitlupe.