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«Ich will keinen Krieg» 28. Februar 2022

Die ehemalige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (70) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von der Friedensdemo in Bern und einem Déjà-vu. 

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Es sind Hunderte, Tausende, die sich vom Berner Bahnhof aus Richtung Schützenmatte bewegen. Dort stehen die Menschen dicht an dicht, junge Mütter und Väter mit Kinderwagen, kleine Kinder an der Hand ihrer Eltern oder Grosseltern, ältere Paare, Jugendliche jeder Couleur und Gruppenzugehörigkeit, Menschen im Rollstuhl, andere am Stock. Regenbogenfarbige Friedensfahnen und gelb-blaue ukrainische Flaggen wehen über den Köpfen, Transparente werden hochgehalten: «Stop Putin», «Frieden für die Ukraine», «Sanktionen jetzt», «neutral heisst nicht egal», «Bundesrat zeig Eier» oder «Das ist nicht mein Bundesrat».

Rednerinnen und Redner verschiedener Parteien und Organisationen verurteilen Putins kriegerischen Angriff auf die Ukraine, die Missachtung von Menschen- und Völkerrecht, die Aushebelung der Rechtsstaatlichkeit. Im Zentrum ihrer kurzen Statements stehen die Menschen: Flüchtende auf dem Weg in die EU, traumatisierte Kinder, junge Männer, die in den Krieg ziehen, Mütter, die um ihre Söhne trauern. In einem flammenden Aufruf attackiert SP-Co-Präsident Cédric Wermuth den Bundesrat: Es könne nicht sein, dass der Landesregierung die Profite der Schweizer Vermögensverwalter wichtiger seien als gemeinsames Einstehen gegen den Krieg. 

Die letzte Rednerin lädt zu zwei Schweigeminuten ein. Stille senkt sich über die dichtgedrängte Menschenmasse. Meine Gedanken schweifen in die Ukraine und nach Russland und überallhin auf der Welt, wo Menschen auf die Strasse gehen für Menschen, die doch nichts anderes als in Frieden leben möchten. Mir kommen die Tränen, so sehr fühle ich mich zugehörig und verbunden. Ich bin froh, stehe ich mit Mann und Hund unter den vielen, vielen Gleichgesinnten. Mit meiner Ohnmacht bin ich nicht allein. Mein Blick fällt auf einen kleinen Jungen, der ein selbst gebasteltes Schild an die Brust drückt: «Ich will kein Krieg» steht darauf in ungelenken Buchstaben. Ich schicke ein Stossgebet zum Himmel.

Als sich schliesslich der kilometerlange Demonstrationszug in Bewegung setzt, habe ich ein Déjà-vu: die Kundgebung auf dem Bundesplatz gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. Ich weiss noch, wie unsere Seminarklasse daran teilnahm – alle waren wir in Rot, Weiss und Blau gekleidet, den Nationalfarben der damaligen Tschechoslowakei. Ich erinnere mich an mein Gefühl, Teil von etwas Grösserem zu sein.

Zu Hause steige ich auf den Estrich und hole die Bananenschachtel mit meinen Tagebüchern herunter. Ich lese den Eintrag vom 21. August 1968: «Russische Truppen sind in die Tschechoslowakei einmarschiert. Wird es Krieg geben? Bricht der Dritte Weltkrieg aus? Ich habe Angst um alle Menschen.» Einen Tag später schrieb ich: «Heute Abend demonstrierten wir auf dem Bundesplatz. Es war eindrücklich. Stadtpräsident Reynold Tschäppät hielt eine Rede. Danach folgte eine Schweigeminute, und alle Glocken der Kirchen in Bern begannen zu läuten. Zum Schluss gab es einen Schweigemarsch durch die Stadt.»

Mehr als 53 Jahre sind seither vergangen. In der Schule lernen die Kinder, dass Konflikte anders als mit Fäusten ausgetragen werden können. Straftätern wird ein Anti-Aggressionstraining angeboten. Mediatorinnen und Mediatoren helfen Lösungen finden, bevor ein Streit zu einem Gerichtsfall wird. Begriffe wie Achtsamkeit, Zugewandtheit, Begegnung auf Augenhöhe, Respekt und Empathie gehören zum neuen Wortschatz. Auf der politischen Weltbühne sind sie nicht angekommen. 


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Beitrag vom 28.02.2022

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