Lebensübergang ins vierte Alter
Wenn die Kräfte nachlassen und die körperlichen Beschwerden zunehmen, beginnt das sogenannte vierte Alter. Ein neuer Lebensabschnitt steht bevor. Der Übergang stellt Herausforderungen, birgt aber auch Chancen.
Text: Usch Vollenwyder
Die Jahre zwischen 65 und 80 erlebte ich als eine grossartige Zeit», sagt der emeritierte Zürcher Historiker Kurt R. Spillmann. «Bei der Pensionierung war ich auf dem Höhepunkt meiner beruflichen Kompetenz und Erfahrung angelangt. Gleichzeitig fielen die lästigen Pflichten, die jeder Beruf mit sich bringt, weg.» Von nun an habe er nach eigenem Gutdünken Aufträge annehmen, arbeiten und sich engagieren können. Doch irgendwann nach seinem achtzigsten Geburtstag habe er realisiert, dass er an der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt angekommen sei. «Ich musste mit körperlichen Begrenzungen und Einbussen leben und auf Selbstverständliches und Vertrautes verzichten lernen.» (siehe Interview). Zwischen 80 und 85 Jahren, wenn die Kräfte nachlassen und körperliche Beeinträchtigungen den Alltag bestimmen, beginnt laut praktischer Forschung die Hochaltrigkeit, das sogenannte vierte Alter. Dieses sei ein Thema auf gesellschaftlicher ebenso wie auf familiärer und sozialer Ebene, schreibt die emeritierte Professorin für Entwicklungspsychologie Pasqualina Perrig-Chiello. Vor allem aber sei es eine Herausforderung für die Betroffenen: «Auf der individuellen Ebene besteht die grosse Herausforderung darin, die zumeist schwindende Autonomie und Selbstbestimmung aufgeben zu müssen und neue kompensatorische Formen zu finden.»
«Früher war ich ständig unterwegs. Ich hatte Freunde in aller Welt, und Fliegen war meine grosse Leidenschaft. Das geht nicht mehr. Ich kann es gut akzeptieren, es ist jetzt einfach so. Auch im Alltag bin ich langsamer geworden. Mich beeilen? Das liegt nicht mehr drin. Meine Welt ist kleiner geworden. Dem Kontakt mit anderen Menschen kann sie aber noch keine Grenzen setzen. Ich telefoniere, schreibe Briefe, korrespondiere via Mail mit Freunden und Verwandten im Fernen Osten und in Südamerika. Ich teile und geniesse das Leben mit langjährigen Wegbegleiterinnen und -begleitern. Die jetzige Lebensphase schenkt mir Zeit für Begegnungen in jeder Form. Oft sitze ich auf dem Balkon meiner Alterswohnung und schaue in die Berge und in die Bäume. Ich höre die Vögel singen und nachts betrachte ich den Sternenhimmel. Ich lese immer mehrere Bücher gleichzeitig – über andere Länder und Kulturen, über philosophische und theologische Fragen und über das All, immer wieder das All. Seiner Faszination kann ich mich nicht entziehen. Diese unendliche Weite und unvorstellbare Grösse, das Zusammenspiel der Galaxien und Sternhaufen, die Sehnsucht der Menschen nach Antworten – sie haben für mich mit den Fragen nach dem Woher und Wohin zu tun. Ohne alle Verpflichtungen bade ich in einem Meer von Zeit. Natürlich ist mir bewusst, dass mein Leben vielleicht schon in einem, vielleicht auch erst in zehn Jahren zu Ende ist. Trotzdem denke ich nicht häufiger an den Tod als früher. Ich war fünfzehn, als mein ältester Bruder auf dem Heimweg vom Nachbardorf von einem Auto überfahren wurde. Auch fast siebzig Jahre später sind mir alle Details dieser Tage noch ganz präsent. Damals lernte ich, dass der Tod allgegenwärtig ist. Wie es allerdings sein wird, wenn vorher grosse körperliche und geistige Einschränkungen auf mich zukommen, weiss ich nicht. Ich hoffe, dass ich dann auch diesen letzten Lebensabschnitt akzeptieren kann.»
Moritz B. (82)
Vom Kind zum Teenager, von der jungen Frau zur Mutter, vom aktiven Berufsmann zum Rentner, von der Ehefrau zur Witwe oder vom rüstigen Pensionär zum hilfebedürftigen Senior: Lebensübergänge gehören zu jeder Biografie. Diese Übergangsphasen – die Fachwelt nennt sie Transitionen – müssen bewältigt werden: Alte Rollen gilt es aufzugeben und neue zu definieren. Die Gegenwart ist infrage gestellt, die Zukunft ungewiss. Vertrautes muss losgelassen, Neues angepackt werden. Der bis anhin feste Boden wankt. Unsicherheit und manchmal auch Angst prägen die Phase der Neuorientierung. Für die Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello gehören der erfolgreiche Übergang und die Anpassung an die neue Situation zu den wesentlichen Entwicklungsaufgaben in jedem Menschenleben. Ihre Umfragen und Studien zeigen, dass ältere Menschen aufgrund ihrer Lebenserfahrung gelassener auf solche Übergänge reagieren und besser mit Veränderungen umgehen können. «Transitionen sind verbunden mit vielen Chancen, mit alten und neuen Inhalten, vor allem aber mit neuen Möglichkeiten. Transitionen sind nicht nur Herausforderungen, sondern bergen auch Chancen zu persönlichem Wachstum», sagt die Wissenschaftlerin.
«Natürlich merkte ich schon länger, dass ich mit dem Velo und zu Fuss weniger zügig unterwegs war und für alles mehr Zeit brauchte als früher. Trotzdem fühlte ich mich auch als 85-Jährige noch nicht wirklich alt. Vor zwei Jahren hatte ich einen Velounfall, brach drei Rippen, eine Lungenentzündung folgte und jetzt weiss ich: Ich bin alt. Ich kann den Haushalt nicht mehr schmeissen. Corona machte alles noch schlimmer: Ich hatte zu Hause zu bleiben und habe viel von meiner einstigen Selbstständigkeit verloren.
Am meisten vermisse ich das Velofahren und meine regelmässigen Schwimmbadbesuche. Ich kann auch nicht mehr spontan allein verreisen. Gleichzeitig werden andere Lebensthemen wichtiger. Ich setze mich vermehrt mit dem Tod auseinander. «Je suis prête, mais ça ne dépêche pas», hat mir einmal eine welsche Freundin gesagt. Ja, ich bin bereit, aber ich lebe immer noch gern. Ich mache neue, positive Erfahrungen: Wegen meiner fortschreitenden Makuladegeneration bin ich seit kurzem mit dem Blindenstock unterwegs. Die Hilfsbereitschaft, die mir dabei auch von jungen Menschen entgegengebracht wird, berührt mich sehr. Manchmal muss ich darum bitten. Das kann man lernen.
Schon als mein Mann noch lebte, pflegten wir eine gute Nachbarschaft. Mit meinen Einschränkungen bin ich jetzt selber auf hilfsbereite Nachbarinnen und Nachbarn angewiesen. Dafür bin ich dankbar. Überhaupt bin ich dankbar für alles, was ich habe. Ich bin meinen Eltern dankbar, die auf vieles verzichten mussten, damit ich eine gute Ausbildung machen konnte. Ich bin dankbar, dass ich in der Schweiz mit ihrem funktionierenden Gesundheitssystem und den vielen Therapiemöglichkeiten alt werden darf. Ich bin mir sehr bewusst, wie gut es mir geht. Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, habe ich viele Gründe, zu zufrieden und dankbar zu sein.»
Esther Sch. (87)
Der liebevolle Blick zurück auf das eigene Leben, Dankbarkeit für alles, was gelungen ist, Verständnis für eigene Fehler und Versäumtes: Theres Spirig-Huber und Karl Graf – beide haben einen theologischen und erwachsenenbildnerischen Hintergrund – stellen in verschiedenen Kursen zu Lebensübergängen Biografiearbeit und Spiritualität ins Zentrum. Mit Hilfe von Erinnerungen und biografischem Erzählen wird das Leben gewürdigt und seine Einmaligkeit erkannt. Existenzielle Fragen erhalten angesichts der begrenzten Lebenszeit neue Bedeutung. Die Kursleitenden plädieren für Humor auch in schwierigen Zeiten und für «Mut zur Demut»: Abschiedlich leben und aushalten, dass wir als Erdengeschöpfe das Leben letztlich nicht in der Hand haben.
Zum Lebensrückblick gehöre auch der Blick in die Zukunft, sagen Theres Spirig-Huber und Karl Graf: Was ist mir wichtig? Was will ich noch in Ordnung bringen? Wem gegenüber möchte ich meine Dankbarkeit aussprechen? Was möchte ich selber noch erleben – und mit wem? Wie gedenke ich meinen nächsten Lebensabschnitt anzugehen, und welches sind meine konkreten ersten Schritte?
Sie verweisen auf gute Beziehungen und die Bedeutung von Ritualen und Symbolen: Musik, literarische Texte oder Gebete, ein Fest oder eine besondere Begegnung seien Kraftspender in Übergangssituationen. Für die erfahrenen Fachpersonen ist das ganze Leben eine Spurensuche nach dem tragenden Grund und ein Reifungsprozess.
«Ich leide seit vielen Jahren an einer chronischen Bluterkrankung mit extremer Müdigkeit. Zuerst fielen meine sportlichen Hobbys weg: Skifahren, Inline-Skaten, Wandern, Velofahren … Bei meinem um einige Jahre älteren Partner wurde eine beginnende Demenz diagnostiziert. Wir passten das Reisen – eines unserer grossen Hobbys – unseren reduzierten Möglichkeiten an. Schliesslich musste mein Partner in eine Altersinstitution umziehen. Ich besuchte ihn regelmässig, ging daneben weiterhin in meine Lateinkurse, engagierte mich bei den Grauen Panthern und als Seniorin im Klassenzimmer. Kinder sind für mich eine Kraftquelle.
Und dann kam Corona. Plötzlich herrschte in meiner Agenda gähnende Leere. Alle Kurse und Engagements fielen weg. Ich konnte meinen Partner im Altersheim nicht mehr besuchen. Die persönlichen sozialen Kontakte wurden auf ein Minimum beschränkt. Die Pandemie warf mich aus dem eigenen Leben hinaus. Sie hat meinen Alterungsprozess massiv beschleunigt. «I ma nüm», dachte ich oft, wenn wieder ein neuer Tag begann. Meinem achtzigsten Geburtstag im letzten Frühling sah ich mit gemischten Gefühlen entgegen. Schliesslich feierte ich ihn mit meinen Söhnen und meinem Enkel. Ich bekam viele Telefonanrufe und Glückwünsche. Ich hätte nie gedacht, dass so viele Menschen an mich denken. Ein bisschen Lebensfreude kehrte zurück.
Ich bin überzeugt, dass das Leben auch in seinem letzten Abschnitt noch Aufgaben für mich bereithält: So möchte ich mit mir selber ins Reine kommen, mich von falschen Erwartungen distanzieren und Schuldgefühle loswerden. Ich möchte mehr Gelassenheit finden und Freude an jedem neuen Tag haben können. Ich beginne damit in kleinen Schritten – zum Beispiel, indem ich mit offenen Augen durch die Natur gehe und all die Wunder um mich herum wahrnehme: das Schwanenpaar am See oder die Frösche am Teich, der Steg, der hinaus übers Wasser führt … Ich möchte die Vielfalt des Lebens begreifen lernen. So könnten die nächsten Jahre noch einmal eine Chance sein.»
Anna B. (80)
- Lesen Sie hier das Interview mit Kurt Spillmann: «Einschränkungen kommen in kleinen Schritten»
Mit grosser Überraschung habe ich heute auf meinem neuen iPad entdeckt,
dass ich einen Artikel lesen und gleichzeitig auch hören kann. In wenigen Wochen bin ich 85ig, also im vierten Alter! Musste schon einige Zugeständnisse machen.
Das Interview mit Kurt Spillmann ist sehr interessant.So bin ich auch der Meinung:
Zufrieden sein und Möglichkeiten, die Freude bereiten, nutzen.