Der Tod ist ein grosses Rätsel. Die Ungewissheit macht Angst. Wichtig ist, die eigene Endlichkeit zu akzeptieren. Und sich mit dem Tod vertraut zu machen. Umfragen zeigen: Die Angst vor dem Sterbeprozess ist grösser als vor dem Jenseits.
Hans Z*. hatte hohes Fieber. Die Infektion breitete sich in seinem Körper aus. Während die Ärzteschaft um sein Leben kämpfte, ging er auf einem Weg über eine Blumenwiese. Es war die schönste Wiese, die er je gesehen hatte. Sie war in helles Sonnenlicht getaucht, die unterschiedlichsten Blumen leuchteten in allen Farben und er wusste, dass er sie nicht betreten durfte. Am Horizont ragte eine Felswand auf, durch einen schmalen Spalt drang ein dunkelgelbes Licht. Ein Licht, wie er keines kannte. Davor sass seine Grossmutter und winkte ihm zu. «Ich wollte zu ihr hingehen, doch vor mir stand ein Ritter und versperrte mir mit seinem Schwert den Weg.» Als Nächstes spürte Hans Z., wie ihm schwer und kalt wurde. Weiss gekleidete Menschen standen um sein Bett und riefen seinen Namen. Widerwillig tauchte er auf in die kalte Realität des Spitalalltags.
«Wenn sich das Ende so anfühlt, dann macht es mir keine Angst.»
Hans Z.
Seither sind mehr als dreissig Jahre vergangen. Der Vater von zwei mittlerweile längst erwachsenen Kindern ist froh, konnten die Ärzte damals sein Leben retten: Er hatte eine junge Familie und stand am Anfang seiner beruflichen Karriere. Das intensive Erlebnis hat er jedoch nicht vergessen. «Es bleibt eine tröstliche Erfahrung im Hinblick auf meinen Tod», sagt der heute Siebzigjährige: Alle Erdenschwere sei weggewesen, ein Gefühl von Leichtigkeit und Aufgehobensein habe ihn erfüllt. Ob er tatsächlich einen Blick in eine andere Dimension geworfen oder ob er nur ein letztes Neuronengewitter in seinem Kopf erlebt hat, kümmert ihn nicht: «Wenn sich das Ende so anfühlt, macht es mir keine Angst.»
Die Frage nach dem Jenseits
Eine Umfrage aus dem Jahr 2019 zeigt: Rund 45 Prozent der Schweizer Bevölkerung glaubt an ein Leben nach dem Tod, gegen 35 Prozent glauben nicht daran und 20 Prozent sind unschlüssig. Die Frage ist so alt wie die Menschheit: Ist das Leben mit dem Tod vorbei oder geht es in irgendeiner Form weiter? Denker, Theologen und Philosophinnen haben sich durch die Jahrhunderte damit auseinandergesetzt, Religionen versuchen, darauf eine Antwort zu geben. Es bleibt ein Geheimnis, wohin der Weg durch den Tod hindurchführt: ins Nichts, in ein grosses Ganzes, zu einem persönlichen Gott oder in den Kreislauf der Wiedergeburt.
Ob der Tod das Ende von allem oder der Übergang in eine andere Existenzform ist, muss jeder Mensch für sich selber entscheiden. Die Kirchen nehmen ihm diese Antwort nicht mehr ab: Zumindest in der westlichen Welt hat das alte Bild vom Jüngsten Gericht, von Fegefeuer und Höllenqualen grösstenteils ausgedient. Eigentlich – so die Logik – müsste man keine Angst vor dem Tod haben. Wer an ein ewiges Leben glaubt, zählt in der Regel auch darauf, an einem schönen Ort seine Liebsten wiederzusehen. Wer von einem Nichts überzeugt ist, kann sich mit den Worten des antiken griechischen Philosophen Epikur von Samos trösten: «Mit dem Tod habe ich nichts zu schaffen. Bin ich, ist er nicht. Ist er, bin ich nicht.»
Trotz allem: Ein mulmiges Gefühl, eine letzte Angst vor dem Ungewissen bleiben. Der amerikanische Filmregisseur Woody Allen formuliert es so: «Ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich möchte nur nicht dabei sein, wenns passiert.» Laut Umfragen ist die Angst vor dem Sterbeprozess jedoch weit grösser als die Angst vor dem Tod und einem möglichen Danach: Angst vor Schmerzen und Atemnot, vor einem zu langwierigen Sterben, Angst, den Angehörigen zur Last zu fallen oder beim Sterben ganz allein zu sein. Diese Ängste kennt auch Brigitte F. Ihr Leben lang war der Tod für sie höchstens eine theoretische Grösse gewesen, der sie mit einer gewissen Flapsigkeit begegnete. Mit der Krebsdiagnose vor vier Jahren wurde er allgegenwärtig.
Todesangst
Lange Zeit blieb ihre Hoffnung stärker als die Angst. Brigitte F. griff nach jedem Strohhalm: Warum sollte ausgerechnet sie an einem todbringenden Krebs sterben? Würde man den Tumor tatsächlich noch operieren, wenn sie bereits mit einem Bein im Grab stünde? Zeugten Blicke und Worte der Ärztin nicht von Zuversicht? «Ich habe ein sonniges Gemüt und bin Zweckoptimistin», sagt die 67-Jährige. «Ich fand immer wieder Gründe, warum das Glas halb voll und nicht halb leer war.» Die teure Immuntherapie vertrug sie gut, damit würde sie leben und alt werden können. Doch nach 35 Zyklen stellte die Krankenkasse ihre Zahlungen ein.
Nun erst kam die Angst. Todesangst. «Jetzt ist es vorbei», war Brigitte F. überzeugt. Mit Grauen erinnert sie sich an unzählige schlaflose Nächte. An eine grosse innere Unruhe. Ihre Gedanken verselbstständigten sich und drehten endlose Schlaufen in ihrem Kopf. «Mein Hirn kam nicht mehr zur Ruhe, die Erinnerungen – an die Grosseltern, die Eltern, an die Kapelle aus meiner Kindheit – jagten vom Hundertsten ins Tausendste.» Dazu kam die Angst vor dem Sterben: «Wie wird es sein? Will ich mein Sterben überhaupt jemandem zumuten?» Angst vor der Angst. Angst vor Schmerzen. Vorübergehend brauchte sie beruhigende Medikamente. Jeden Abend las sie im kleinen Büchlein «Eine Hand voll Sternenstaub» von Lorenz Marti. Dank ihm fand sie sich in der Unendlichkeit des Universums wieder, in dem nichts verloren geht.
Bücher
Lorenz Marti: ,Eine Hand voll Sternenstaub. Was das Universum über das Glück des Daseins erzählt.» Herder Verlag, ca. CHF 19.90
Hans Morschitzky: «Die Angst vor dem Tod. Existenzielle Ängste wahrnehmen und als Chance nutzen.» Patmos Verlag, ca. CHF 29.90
Für Brigitte F. war es ein Trost, sich das grosse Ganze vor Augen zu halten. Das Bewusstsein, in der kosmischen Dimension von Raum und Zeit nur eine Winzigkeit zu sein, machte den Tod weniger bedrohlich. Es war ihre Strategie, mit ihrer Endlichkeit Frieden zu schliessen und mit dem Unvermeidlichen umzugehen. Seit zwei Jahren ist sie ohne Befund und ohne Therapie. Ihr Leben hat eine neue Intensität bekommen: «Ich habe keine Zeit mehr für Nichtigkeiten und Krimskrams.» Sie habe nichts mehr zu verlieren und sei selbstständiger, genauer und bewusster geworden: «Die Krankheit hat mich reifer gemacht.»
Man mag den Tod als Zumutung erachten, als Skandal, als persönliche Niederlage – nichts ändert sich an der Tatsache, dass er unvermeidlich, endgültig und fester Bestandteil unserer Existenz ist. Für alle Menschen, für jedes Lebewesen. «Der Tod ist gross. Wir sind die Seinen …», schreibt der Dichter Rainer Maria Rilke: «…Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns.» Da das Leben nicht ohne das Sterben zu haben und der Tod nicht verhandelbar ist, kann man nur seine eigene innere Einstellung dazu ändern: Es gilt, das Beste aus dem Leben zu machen und die Endlichkeit des Seins zu akzeptieren. Der Tod gibt dem Leben seinen Wert und lässt es zu einem einmaligen Geschenk werden.
In seinem Buch «Die Angst vor dem Tod» stellt der österreichische Psychotherapeut und Angstforscher Hans Morschitzky Strategien vor, wie sich diese existenzielle Angst besser bewältigen lässt: dem Tod ins Auge sehen zum Beispiel, sich darauf vorbereiten, auf Sinnsuche gehen, gemäss seinen persönlichen Werten leben oder zur eigenen Spiritualität finden. Diesen Weg geht zurzeit Alois H. War früher der Tod weit weg, ist er seit einem Treppensturz vor einem halben Jahr ganz nah. Die verbleibende Zeit will der 86-Jährige geniessen. Und sich auf den endgültigen Abschied vorbereiten.
«Ich habe null Vorstellung, aber ich möchte zu diesem Geheimnis Ja sagen können.»
Alois H.
Den Unfall erlebte er als «Weckruf». Als wäre er ein aussenstehender Beobachter, sah er sich die Treppe hinunterstürzen. Alois H. erwachte erst Minuten später. Eine Nachbarin rief seinen Namen, sein Kopf lag in einer Blutlache. Im Spital wurden die Wunden genäht und eine Gehirnerschütterung diagnostiziert. «Seither bin ich nachdenklich geworden.» Der Hirnschlag wenige Jahre zuvor, seine häufigen Rückenschmerzen, Augenprobleme, überhaupt das Altwerden hatten ihn bis anhin wenig beschäftigt. «Jetzt denke ich oft an den Tod. Jeden Tag.»
Er versucht, sich mit dem Tod vertraut zu machen. Er ist sich bewusst, dass schon der nächste Augenblick der letzte sein könnte. Am Abend kommt oft die Frage, ob er morgen wohl noch erwacht. Seine Unterlagen hat er aufgeräumt, den Nachlass geordnet, mit seiner Frau die letzten Wünsche besprochen. Sein Fokus hat sich verändert. Jetzt betet er um einen guten Tod. Oft schaue er zurück und denke an glückliche Erlebnisse, schwierige Momente, durchlebte Krisen. «Eine Gewissenserforschung», sagt der gläubige Katholik. Er versucht, sein Leben zu akzeptieren, wie es war – im Wissen, dass er vieles auch hätte besser machen können.
«Es ist alles in Ordnung, ich kann gehen.» Angst hat Alois H., was vor dem Tod noch alles geschehen könnte: Operationen, Schmerzen, Atemnot. Dem Ende selber sieht er gelassen entgegen. Er ist überzeugt: «Wer immer mich in die Welt gesetzt hat, wird dafür sorgen, dass ich auch gut von ihr gehen kann.» Er vertraut auf einen ewigen Gott, der ihn im Tod nicht fallen lässt und bei dem er dereinst seinen Platz finden wird. Wie genau das gehen soll? «Ich habe null Vorstellung», gibt Alois H. zu. «Das Leben nach dem Tod bleibt ein unauflösbares Rätsel. Aber ich möchte zu diesem Geheimnis Ja sagen können.»
Ist Sterben schlimm?
Tröstlich sind die Resultate einer US-amerikanischen Studie aus dem Jahr 2017: Sterben scheint weniger beängstigend und traurig zu sein, als es von Aussenstehenden wahrgenommen wird. Ein Forscherteam wertete Blogeinträge unheilbar kranker Patientinnen und Patienten und Abschiedsbriefe von zum Tod verurteilten Strafgefangenen aus. In einer Kontrollgruppe wurden Gesunde gebeten, sich Sterben und Tod vorzustellen und letzte Worte zu verfassen. Es zeigte sich, dass die Todgeweihten weit optimistischer und zuversichtlicher waren als die gesunde Kontrollgruppe. Je näher der Tod rückte, umso positiver wurde der emotionale Grundton ihrer Texte – «erfüllt von Liebe und einer grossen Verbundenheit».
Der letzte Weg kann beschwerlich sein. Er bietet aber auch Chancen. Monika Renz begleitet als Musik- und Psychotherapeutin Menschen im Sterben. Gelebte Erfahrungen, Dankbarkeit und Vergebenkönnen erleichtern das Loslassen.
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