«Ich musste Körper und Geist wieder in Balance bringen»

Heinz Frei (62) sitzt seit 42 Jahren im Rollstuhl. Er gewann an Paralympischen Spielen 15 Goldmedaillen und gehört damit zu den erfolgreichsten Spitzensportlern der Schweiz. Im wichtigsten Kampf seines Lebens ging es um Selbstachtung und Selbstliebe. 

Text: Roland Grüter; Fotos: Monique Wittwer

Wenn Sie nachts träumen: Sitzen Sie in Ihren Abenteuern immer im Rollstuhl?
Nein. In meinen Träumen laufe, springe und gehe ich oft. Ich sehe mich den Strand entlang rennen. Und denke: Schön, dass ich zumindest im Schlaf gehen kann. Früher war das anders. Inwiefern? Die Träume setzten mir zu. Denn die Freiheit, die ich darin erlebte, hörte nach dem Erwachen mit einem Schlag auf. Der Rollstuhl stand noch immer neben dem Bett und erinnerte mich daran, dass meine Realität anders ist. Mittlerweile kann ich die Träume geniessen. Denn ich habe meine Lähmung längst angenommen. Vielmehr: Ich habe sie akzeptiert.

Sie sind mit Ihrem Los im Reinen?
Durch und durch. Ich hadere kein bisschen damit und vermisse wenig. Mein Unfall hat mir zwar manches verbaut, aber vieles gegeben.

Zum Beispiel?
Die Erfolge im Sport, die Reisen, all die schönen Begegnungen. Auf zwei Beinen hätte ich den Weg an die Weltspitze wohl kaum geschafft. Ausserdem musste ich schon als junger Mann intensiv und tiefgründig über mein Leben nachdenken: darüber, was mir wichtig ist, was ich erreichen will. Sie stürzten vor 42 Jahren bei einem Berglauf einen Hang hinunter und anschliessend in ein rund sieben Meter tiefes Tobel. Genau. Dabei brach ich mir auf Brusthöhe einen Rückenwirbel – zwei Drittel meines Körpers fielen auf einen Schlag aus.

War das Pech oder Glück?
Ich hätte auch auf dem Kopf landen können, dann sässe ich nicht mehr in dieser Welt. Sie landeten auf dem Rücken: Der Preis für den Fehltritt ist aber unbestritten hoch. Klar, niemand setzt sich freiwillig in den Rollstuhl. Am Anfang glaubte auch ich vor dem Ende zu stehen. Ich haderte, verdammte meinen Körper, schien am Ende. Erst Jahre später, nach viel Arbeit an Kopf und Seele, habe ich erkannt, dass mein Leben nicht nur von Einschränkungen geprägt ist. Dass hinter den Grenzen viele Möglichkeiten auf mich warten. Ich glaubte, mich von all meinen Träumen verabschieden zu müssen. Doch es kam anders.

Dieser Mann ist nicht zu bremsen

Portrait von Heinz Frei, Schweizer Spitzensportler.

© Monique Wittwer

Der Palmarès von Heinz Frei ist beeindruckend: drei Weltrekorde, 15 Goldmedaillen an Paralympics in drei Sportarten (Leichtathletik, Handbike, Langlauf), 14 Weltmeistertitel, 112 Marathonsiege und zehn Auszeichnungen als Behindertensportler des Jahres. 62-jährig fährt er noch immer an der Weltspitze mit. Auch abseits des Rennsports hat der gebürtige Berner viel erreicht. Er arbeitete 20 Jahre als Vermessungszeichner. Nunmehr ist er Präsident der Gönnervereinigung Schweizer Paraplegiker-Stiftung, Trainer und Motivations-Coach. Heinz Frei ist Vater von zwei Kindern und lebt zusammen mit seiner Frau in Oberbipp.

Sie hatten Glück im Unglück?
Wenn ich die Einschränkungen der Tetraplegiker sehe, die komplett gelähmt sind: auf jeden Fall. Sie brauchen alleine für die morgendliche Hygiene Stunden, sind auf Hilfe angewiesen. Von meiner Lähmung sind weder Blase, Darm noch andere Organe störend und allzu gravierend betroffen. Ich brauche morgens etwas länger, danach aber steht mir das Leben offen – ohne dass mich der Rollstuhl gross behindert.

Früher nannte man das eine Behinderung.
Ein hässliches Wort. Ich rede lieber von anderen, speziellen Fähigkeiten.

Haben Sie diese Fähigkeiten durchs Leben getragen?
Sozusagen. Die Lähmung hat mich dazu gezwungen, diese zu bündeln. Ich war bei meinem Unfall ja erst 20, wollte Stricke zerreissen, dem Schicksal möglichst viel Erfüllendes und Schönes abverlangen. Das schien auf einen Schlag vorbei. Kein schönes Gefühl. Also musste ich mir etwas einfallen lassen, damit es anders kommt.

Was genau hat geholfen?
Geduld und meine Freunde, die mich gleich nach dem Unfall aus dem Elend holten und mich überallhin mitnahmen. Dann der Wille, mich gegen das scheinbar trostlose Los zu stemmen. Nach dem Unfall war physisch schnell klar, mit welchen Ausfällen ich zu leben hatte. Die Zukunft aber lag weitgehend im Nebel. Damals beschloss ich, mit aller Kraft in ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zurückzufinden.

Heinz Frei gestikuliert im Interview mit der Zeitlupe.
© Monique Wittwer

Sie sind ein Kämpfer – auch jenseits der Rennbahn?
Wahrscheinlich. Zudem bin ich ein Mensch, der eher das Glück als das Unglück sieht. Das war schon vor dem Unfall so.

Überlegen Sie manchmal, wie Ihr Leben ohne Unfall verlaufen wäre?
Nein, solche Überlegungen führen ins Leere und sind allesamt hypothetisch, reine Fiktion. Mittlerweile vergesse ich manchmal sogar den Unfalltag.

Das Image des Sitzens ist nicht sonderlich gut. Nur Langeweiler sitzen das Leben aus. Aktive Menschen hingegen stehen mit beiden Beinen im Leben.
Sitzen ist tatsächlich negativ behaftet, weil man es gemeinhin mit Passivität verbindet. Sitzen bleiben, Sitzleder haben – viele Sprachbilder verweisen darauf. Am Berliner Marathon war auf einem Plakat am Streckenrand zu lesen: Sitzen ist für Ärsche. Mich aber hat das Leben zwar dazu gezwungen, dazusitzen. Ich wollte beweisen, dass auch auf dem Sitz des Rollstuhles viel Dynamik möglich ist, dass man die Welt trotzdem bewegen kann. Dadurch verändert sich der Blick auf die Welt.

«Ich bin der Widerspruch jedes Steh-Apéros.»

Wie war es für Sie, das Leben aus der neuen Perspektive zu sehen?
Beängstigend und neu. Daran musste ich mich erst gewöhnen. Vieles wird unerreichbar, symbolisch, aber auch faktisch. Ich musste lernen, dass mich der Staub oberhalb der 150-Zentimeter-Grenze nicht mehr zu kümmern hat. Das hat gedauert.

Auch die Begegnung mit anderen Menschen verändert sich. Gespräche auf Augenhöhe werden schwierig.
Stimmt, ich bin der Widerspruch jedes Steh-Apéros. Mir bleibt vieles verwehrt, auch an den Gesprächen kann ich nur bedingt teilnehmen – schon alleine deshalb, weil ich unten auf meinem Sitz nur die Hälfte verstehe. Sich einen Platz in der stehenden Gesellschaft zu erarbeiten, verlangt Rollstuhlfahrern viel ab.

Was macht das mit Ihnen?
Den Perspektivenwechsel hält man nur mit viel Selbstwertgefühl aus. Ich kenne Menschen, die damit zeitlebens schlecht zugange kommen, sich buchstäblich heruntergesetzt fühlen.

Sie sagten, dass Sie das Leben anpacken wollten, obwohl noch vieles ungewiss war. Was waren Ihre ersten Ziele, die Sie anpeilten?
Ich musste Körper und Geist wieder in Balance bringen. Der Kopf wollte mehr, als der Körper leisten konnte. Dieses Ungleichgewicht galt es zu beheben. Sonst hätte es mich krank und depressiv gemacht. Kamen Sie deshalb zum Sport?Ich war schon vor meinem Unfall Aktivsportler und in einem Turnverein stark engagiert. Da mein Bewegungsfreiraum plötzlich eingeschränkt war, musste ich mich auch hier neu ausrichten. Dabei ging es längst noch nicht um die Jagd auf Goldmedaillen. Ich wollte mir einzig mehr Kraft und Ausdauer aneignen, um das Leben im Rollstuhl besser bewältigen zu können.

Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?
Es war schlimm. Ich musste lernen, meinen Körper so anzunehmen, wie er ist. An den Muskelschwund, die «dürren Stecken» musste ich mich erst gewöhnen. Und lernen, trotzdem hinzuschauen. Das Ziel war klar: Ich wollte meine Selbstachtung und Selbstliebe zurückgewinnen. Denn ohne diese beiden Faktoren bleibt jedes Lebensmodell wackelig.

Wie lange dauerte Ihre Reha?
Rein physisch: fünf Monate. Dann konnte ich nach ein paar architektonischen Anpassungen in mein gewohntes Lebensumfeld, in mein Elternhaus zurückkehren. Nach zwei Monaten arbeitete ich bereits wieder in meinem angestammten Beruf: als Vermessungszeichner. Der Chef der Firma hatte mir eine Stelle offeriert, obwohl ich eigentlich bereits gekündigt hatte. Ich blieb 20 Jahre im Betrieb, arbeitete dort Teilzeit. Den Büroanteil meines Berufes konnte ich auch im Rollstuhl erledigen.

Hatten Sie Vorbilder, an denen Sie sich orientieren konnten?
Nein. In den 1970er-Jahren war Paraplegie in den Medien noch kein Thema. Ich kannte niemanden, der im Rollstuhl sass – und fühlte mich entsprechend alleine.

Heinz Frei im Interview mit der Zeitlupe.
© Monique Wittwer

Guido A. Zäch, Gründer der Schweizer Paraplegie-Stiftung, änderte das grundlegend.
Er hat viel bewirkt und massgebend dazu beigetragen, dass die Betreuung von Betroffenen professionalisiert wird – und dass viele gesunde Menschen über ihre eigene Verletzlichkeit nachdenken.

Seit dem erzwungenen Rückzug des Patrons ist die Lobbyarbeit für Rollstuhlfahrer leiser geworden. Woran liegt das?
Die Beobachtung stimmt, das ist auch mir aufgefallen. Wahrscheinlich sind viele Querschnittgelähmte rundum damit beschäftigt, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Wahrscheinlich reicht deren Kraft nicht auch noch, sich in der Gesellschaft für übergeordnete Ziele einzusetzen.

Wo besteht besonders Handlungsbedarf?
Die Welt, in der wir leben, ist noch längst nicht schwellenlos. Da sind uns gewisse nordische Länder oder die USA weit voraus. Weit wichtiger aber scheint mir die Imagepflege der Rollstuhlfahrinnen und -fahrer.Inwiefern?Manche Fussgänger sehen uns als schicksalsgeschlagene, arme Seelen und glauben, mit uns keine ausgeglichene Beziehung führen zu können, uns ein Leben lang umsorgen zu müssen. Viele Querschnittgelähmte finden deshalb keine Partnerin, keinen Partner.

Sie lernten Ihre erste Ehefrau acht Jahre nach Ihrem Unfall kennen.
Genau. Wir führten eine rundum erfüllende Beziehung, haben zwei Kinder – Jan und Tamara. Leider zerbrach das Familienglück. Heute teile ich mein Leben mit meiner Frau Rita.

Wie kamen Sie zum Wettkampf, zum Spitzensport?
Irgendwann packten mich der Ehrgeiz und die Lust, an die Grenzen zu gehen, mich mit anderen zu messen. Ich intensivierte und professionalisierte das Training – und feierte erste Siege. Ich liebe es generell, ein gewisses Risiko zu nehmen und an Grenzen zu gehen.Wie aktiv sind Sie noch?Ohne die Corona-Pandemie wäre ich diesen Sommer wohl an meine zehnten Paralympischen Sommerspiele nach Tokio gefahren. Ich bin zwar 62-jährig, trotzdem kann ich noch immer mit der erweiterten Weltspitze mithalten.

Nun stehen Sie vor einer weiteren Herausforderung: dem Alter. Sie mussten sich schon einmal mit körperlichen Einschränkungen abfinden. Hilft das im Umgang?
Es gibt tatsächlich Parallelen. Irgendwann wird wieder der Punkt kommen, an dem mein Kopf vom Körper Leistungen abverlangt, die er nicht mehr erbringen kann. Dann gilt es loszulassen, sich von manchen Dingen zu verabschieden. Nur: Dieses Mal kommen die dafür verantwortlichen Veränderungen in kleinen Schritten auf mich zu. Sie sind sachte, manchmal nicht einmal spürbar.

Worauf müssen Querschnittgelähmte besonders achten?
Meine Knochendichte ist lasch, Stürze hätten für mich fatale Folgen. Darüber hinaus habe ich kein Schmerzempfinden, muss mich also vor Druckstellen hüten. Sonst gelten die gleichen Regeln wie für alle: Kraft trainieren, mich in Bewegung halten, mir viel Gutes tun. Auch darauf hat mich meine Biografie prima vorbereitet.

Sie haben sich bereits aufs Alter ausgerichtet und sind aus ihrem Familienhaus ausgezogen.
Stimmt. Das war vor fünf Jahren – ein grosser Schritt. Heute leben meine Frau und ich in Oberbipp, wo ich aufgewachsen bin. Der Wegzug von Etziken SO war ein grosser Schritt. Ich bin Ehrenbürger der Gemeinde, lebte an einem Weg, der nach mir benannt worden ist. Da überlegt man sich doppelt, ob man die Koffer packen soll. Wir haben es trotzdem gemacht. Das Haus, in dem wir nun leben, gehörte einst einem Jugendfreund. Dieser hatte mich nach meinem Unfall in der Reha besucht und später sein Haus schwellenlos gebaut – weil er durch mein Schicksal sensibilisiert war. Nun kann ich davon profitieren. Ein Privileg und ein weiterer Glücksfall.

Beitrag vom 10.08.2020