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«Die Politik ist kein Ponyhof»

Eigentlich wollte sie nach Hollywood, gelandet ist sie in Bundesbern: Die Mitte-Nationalrätin Marianne Binder-Keller über die schönen und die hässlichen Seiten ihres Berufs, ihre Freude an der Macht und die Hornhaut auf der Seele, die man sich als Politikerin zulegen sollte.

Interview: Claudia Senn; Fotos: Sonja Ruckstuhl

Hier im Aargau ist die Politik noch Familienbusiness. Das zeigt sich exemplarisch an Marianne Binder-Keller, 64, Nationalrätin der Mitte. Auch ihr Vater war Nationalrat, für die CVP, wie die Partei damals noch hiess, bevor sie im letzten Jahr mit der BDP fusionierte und sich seither Die Mitte nennt. Marianne Binder-Kellers Mann Andreas Binder war früher ebenfalls Politiker. Er sass im Einwohnerrat von Baden und im Grossen Rat des Kantons Aargau – für die CVP, wen sonst. Dessen Vater Julius Binder, ein CVP-Ständerat, wäre 1982 sogar fast Bundesrat geworden. Inzwischen hat mit Marianne Binder-Kellers Sohn Simon bereits die dritte Generation ihren Weg in die Politik gefunden, was dem umtriebigen Polit-Clan den Spitznamen «Die Kennedys aus Baden» eingebracht hat. Seine Partei: logisch, Die Mitte.

Wie fühlt es sich an, in einer Politikerfamilie aufzuwachsen, in der Werdegang und Parteizugehörigkeit vorgegeben zu sein scheinen? Was fasziniert an der Politik so sehr, dass jede neue Generation in die Fussstapfen der vorherigen tritt? Das soll uns Marianne Binder-Keller erzählen. Sie ist eine elegante Frau mit perfekt sitzendem Make-up, die jedoch auch etwas Burschikoses und Direktes ausstrahlt. Allzu private Fragen lässt sie an sich abperlen, da bleibt sie ganz Politikerin. Trotzdem zeigt sie uns ihre Erschütterung darüber, dass ihr Vater, «ein Intellektueller, ein Rhetoriker erster Güte», von Demenz geschlagen wird. «Das Familiäre beschäftigt mich mehr als die Politik», sagt sie.

Marianne Binder-Keller, was hatten Sie mit 17 für Träume? War damals schon absehbar, dass Sie dereinst in der Politik landen würden?
Absolut nicht, nein. Mein Traum war es, eine Karriere als Filmstar hinzulegen, natürlich in Hollywood. Die Studios, das Rampenlicht, der Auftritt, der Glamour.

Gab es einen auslösenden Moment, der Sie für die Schauspielerei begeisterte?
Wir hatten keinen Fernseher, schauten aber jeden Samstag bei meiner Grossmutter «Sport am Wochenende». Danach kam «Bonanza» …

Marianne Binder-Keller
© Sonja Ruckstuhl

… eine amerikanische Serie über einen verwitweten Farmer im Wilden Westen und seine drei Söhne.
«Bonanza» war damals ein Strassenfeger. In meiner Fantasie war ich die Schwester dieser drei Jungs, das einzige Mädchen auf der Farm, ständig auf dem Ross. Ich stellte mir sogar vor, wie die Produzenten der Serie bei mir persönlich vorsprechen, um mich für die Rolle zu engagieren. Mein Vater wäre selbstverständlich dagegen, ich würde toben und mich schliesslich gegen alle Widerstände durchsetzen.

Waren Sie denn ein rebellischer Teenager?
Lange hatte ich keine eigene Meinung, opponierte aber gegen alles. Zu Hause vertrat ich die linken Parolen meines Geschichtslehrers, eines Alt-68ers, den ich sehr mochte. In der Schule erzählte ich, was mein CVP-Politiker-Vater entgegnete. An beiden Orten erntete ich die schönste Empörung, weil ich meine Behauptungen auf die Spitze trieb.

«Die starken Reaktionen, die ich bekam, lehrten mich, dass die Welt nicht schwarz oder weiss ist.»

Das Provozieren machte Ihnen also Spass.
Absolut. Das war eine rhetorische Übung. Am Ende lehrten mich die starken Reaktionen, die ich bekam, dass die Welt nicht schwarz oder weiss ist, sondern in vielen Grautönen schimmert.

Ihr Vater Anton Keller war nicht nur CVP-Nationalrat, sondern auch Oberst im Generalstab. Wie streng ging es zu Hause zu und her?
Nicht sehr. Mein Vater war Lehrer für Geschichte und Deutsch an der Kantonsschule Baden, zu seinen Schülern hatte er einen sensationellen Draht. Er war alles andere als ein Betonkopf. Er hatte Verständnis, wenn jemand nicht in die RS wollte, und legte auch für Dienstverweigerer ein gutes Wort ein. Doch für alle, die im Militär Karriere machen wollten, machte er sich stark.

Wie hat Ihre Mutter Rosemarie Keller Sie geprägt?
Meine Mutter ist Schriftstellerin, und ich war immer stolz darauf, dass sie einen Beruf hat – was für Frauen ihrer Generation alles andere als selbstverständlich ist. Neben Romanen schrieb sie Theaterkritiken für die «Aargauer Zeitung» und das «Badener Tagblatt». Sie hatte auch eine Schauspielausbildung. Unser Familienleben war stark geprägt vom Miteinanderreden. Beide Eltern vermittelten uns, dass Sprache prägend ist.

Viele Eltern wünschen sich insgeheim, dass die Kinder in ihre Fussstapfen treten. Diese wollen jedoch meist ihren eigenen Weg gehen. Hatten Sie selbst niemals das Bedürfnis, eine andere Karriere einzuschlagen als Ihre Eltern? 
Nein, es hat sich so ergeben. Es lag einfach auf der Hand.

Wäre denn Feuer im Dach gewesen, wenn Sie einer anderen Partei beigetreten wären wie den Grünen oder der SP?
Der Gedanke ist mir nicht gekommen. Für mich gabs in der CVP genügend Zündstoff. Mitte-Politikerinnen und -Politiker mögen zwar für die Medien ein brävliches Image haben, weil wir nicht provozieren und eher moderat und abwägend sind. Aber man kann auch aus der Mitte heraus pointiert sein, pfeffern und angreifen.

Zur Politik sind Sie jedoch erst als Spätzünderin gekommen, mit 47 Jahren. Was haben Sie vorher gemacht?
Mit 21 lernte ich meinen Mann kennen, das war im Wahlkampf ’79. Ich traf ihn in einer Beiz und erzählte ihm, mein Vater kandidiere für den Nationalrat. Er antwortete, seiner kandidiere ebenfalls. Mit Blick auf meinen Vater dachte ich, seiner wolle vielleicht in die Schulpflege. Dass es sich um Jules Binder handelte, den Ständeratskandidaten, war für mich eine Überraschung. Drei Jahre später waren wir verheiratet. Mein Mann ging in die Politik und wurde Grossrat. Ich machte Kabarett, moderierte Kindersendungen beim Schweizer Fernsehen, wäre gern Nachfolgerin der schönen Ansagerin Marie-Thérèse Gwerder geworden, was aber leider nicht klappte, baute den regionalen Privatfernsehsender Tele M1 mit auf. Dann kamen die Kinder.

Die Tochter des einflussreichen Aargauer CVP-Nationalrats Anton Keller heiratet also den Sohn des ebenso einflussreichen Aargauer CVP-Ständerats Julius Binder. War diese Liaison Zufall?

Sie unterstellen mir eine arrangierte Ehe? Wie gesagt, wir trafen uns per Zufall. Doch es ist schön, wenn beide einen politischen Background haben. Mein Mann ist ein grossartiger Sparringpartner für mich, ein kluger Inputgeber und gewiefter Taktiker. Ganz sicher ist er mein wichtigster Berater.

Marianne Binder-Keller
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Als Ihre Kinder erwachsen waren, wollten Sie eigentlich Ihre Karriere als Kabarettistin und Autorin vorantreiben. Doch dann rief Doris Leuthard an und machte Sie zur Kommunikationschefin der CVP. Ihre Vorgängerin hatte einem Journalisten ins Mikrofon diktiert, der Papst sei «ein Depp» und die Kirche «die grösste Schwulenorganisation der Welt». 

Das gab natürlich ein Höllengeschrei, und die CVP brauchte Knall auf Fall eine neue Kommunikationschefin. Zum Vorstellungsgespräch bin ich mit einem Selbstbewusstsein hingegangen, das mich im Nachhinein sehr verwundert. Ich fand, die brauchen ja mich und nicht ich sie. Erst nach dem Gespräch realisierte ich, was für eine grossartige Chance sich mir bot.

Hatten Sie denn überhaupt Ahnung von der Materie?

Von Kommunikation hatte ich viel Ahnung. Von Politik ebenso. Die Partei kannte ich in- und auswendig. Aber eine Kommunikationsabteilung hatte ich tatsächlich noch nie geführt. Da baute ich auf meine kompetenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Später übernahm ich dann auch ein politisches Amt, als Grossrätin im Kanton Aargau.

Heute sind Sie nicht nur Nationalrätin, sondern auch Parteipräsidentin von Die Mitte Aargau und Mitglied des gesamtchweizerischen Parteipräsidiums. Was für ein Verhältnis haben Sie zur Macht?
Ich habe Freude daran, weil ich etwas bewegen kann, zumindest innerhalb gewisser Grenzen. Als ich am 20. Oktober 2019 erfahren habe, dass ich als Nationalrätin gewählt bin, war das ein toller Moment. Noch heute bekomme ich Gänsehaut, wenn ich daran denke! Die Macht ist in der Schweiz jedoch beschränkt. Ich bin eine von 246 Parlamentarierinnen und Parlamentariern. Und ich muss mich alle vier Jahre zur Wiederwahl stellen. Das relativiert die eigene Bedeutung.

An wie vielen Abenden pro Woche müssen Sie an eine «Hundsverlochete», weil Ihr Amt es erfordert?
Etwa an dreien. Corona hat das geändert, weil viele Sitzungen jetzt per Zoom abgehalten werden.

«Wenn man wenig erwartet, kann man auch nicht enttäuscht werden.»

Man muss wohl physisch aussergewöhnlich robust sein, um ein so eng getaktetes Programm zu bewältigen.
Ja, das geht schon an die Substanz. Regierungs- oder Bundesräte haben einen Stab, der ihnen vieles abnimmt. Nicht aber National- und Ständeräte, und schon gar nicht die Parteipräsidenten. Aber ganz ehrlich: An Veranstaltungen zu sein, ist für mich keine Pflicht, sondern eine Freude. Ich lebe von der direkten Begegnung, und die Menschen schätzen, dass ich da bin.

Erleben Sie das als eine Form von Zuneigung?
Ja, man mag mich offenbar mehr, als ich als Politikerin angenommen hätte. Das gibt mir Power, da kommt etwas zurück.

Politiker und vor allem Politikerinnen werden auf Social Media oft hemmungslos beleidigt. Wie schwer tun Sie sich mit dieser hässlichen Seite Ihres Berufs?
Früher, als die ganz schlimmen Kommentare noch nicht gelöscht wurden, blieb mir schon manchmal die Luft weg. Die Aggressivität im Netz ist unglaublich. In der Politik lernt man aber einzustecken, die Dinge nicht allzu persönlich zu nehmen.

Ist das so einfach? Man kann doch nicht alles an sich abperlen lassen. Ihr SVP-Ratskollege Andreas Glarner kommentierte beispielsweise vor einigen Jahren auf Facebook Ihr Aussehen sehr abschätzig. Er schrieb: «Es gibt Frauen, die machen für ihr Äusseres Dinge, für die
ein Gebrauchtwagenhändler ins Gefängnis käme.»

Heute würde sich Andreas Glarner so etwas nicht mehr erlauben. Damals musste man jedoch selbst auf so plumpe Beleidigungen noch humorvoll reagieren, wenn man es nicht noch schlimmer machen wollte. Ich konterte, der liebe Gott habe mir eben auch ein bisschen Lippenstift in die Genmasse gemischt.

Marianne Binder-Keller
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Muss man sich als Politikerin Hornhaut auf der Seele zulegen?
Das ist auf jeden Fall hilfreich. Politik ist kein Ponyhof. Mein Motto ist es, möglichst wenig zu erwarten, dann kann man auch nicht enttäuscht werden. Frauen sagen oft: Das könnte ich nicht aushalten, so harte Debatten zu führen. Aber da müssen wir von den Männern lernen. Die hauen sich rhetorisch auf die Nuss, trinken danach gemeinsam ein Bier, und alles ist wieder gut.

Welche Angriffe tun am meisten weh?
Mit sexistischen Äusserungen muss man heute vorsichtig sein, damit schiesst man schnell ein Eigentor. Interessanterweise darf man zu einer Frau aber sagen, dass sie zu alt ist. Ich wehre mich dagegen, dass mein Alter für mich als Politikerin ein Handycap darstellt. Soll ich etwa für den Rest meines Lebens Taucherli füttern? Da sage ich selbstbewusst für mich und meine Generation: Das ist verschwendetes Potenzial.

Die Machtspiele der Politik sind wie eine Sprache, die man beherrschen muss, um nicht unterzugehen. Sind Sie gut darin?
Ich habe sie mir mit der Zeit angeeignet. Wenn man von etwas überzeugt ist, muss man dafür kämpfen. Man darf nicht einfach aufgeben und sich darüber beklagen, dass einen die anderen über den Tisch ziehen. Da heisst es: selbst über den Tisch langen, weitermachen, durchhalten, lernen, dass man halt manchmal aufs Dach bekommt. Das Wunderbare an unserer direkten Demokratie ist, dass man auch lernt zu verlieren. So what!

  • Schauen Sie auch unser Video, in dem Marianne Binder-Keller fünf Fragen beantwortet.
Beitrag vom 11.10.2022