«Wir Alten dürfen die Jungen nicht im Stich lassen»
Eveline Hasler, die Grande Dame der Schweizer Literatur, ist auch im Alter kreativ und aktiv wie eh und je. Die gebürtige Glarnerin, die seit 25 Jahren im Tessin lebt, schöpft ihre Schaffenskraft aus der Natur, dem Schreiben und Malen.
Interview: Marianne Noser
Sie schreiben immer noch Bücher, reisen für Lesungen quer durch die Schweiz und stehen den Medien Red und Antwort. Woher schöpfen Sie diese Energie?
Aus der Arbeit, so paradox das klingen mag. Wenn ich für meine Bücher recherchiere, an den Geschichten schreibe, daraus lese oder darüber rede, dann tauche ich in eine andere Welt ein, die mich erfüllt und beflügelt.
Letztes Jahr ist Ihnen mit «Tochter des Geldes» erneut ein Bestseller gelungen. Er erzählt die Geschichte der 1874 geborenen Mentona Moser, die als Millionärstochter zur Kommunistin wurde und 1971 verarmt in der DDR starb.
Wie wichtig ist Ihnen der Erfolg dieses Buches?Ich freue mich sehr, dass «Tochter des Geldes» so viele Leserinnen und Leser gefunden hat. Ich war im Vorfeld etwas unsicher, ob ich dieser mutigen und starken Frau, die auf ein Leben im Reichtum verzichtet hat, um als Sozialrevolutionärin und Feministin die Welt ein wenig besser zu machen, gerecht werden kann.
Hat es darum so lange gedauert, bis Sie sich an diesen Stoff gewagt haben? Sie wurden schon 1986 anlässlich eines Literaturkongresses in der DDR ans Grab der Zürcherin geführt, die in Ostberlin als Heldin in einem Ehrenhain beigesetzt war.
Nicht nur. Ich habe auch zugewartet, weil bei uns zur Zeit des Eisernen Vorhangs alles, was mit Kommunismus und Russland zu tun hatte, bei einem Grossteil der Bevölkerung auf Ablehnung stiess. Unsere Gesellschaft ist diesbezüglich inzwischen toleranter geworden, hat die Fenster und Türen zur Aussenwelt etwas weiter geöffnet. Doch es gab noch einen anderen Grund für den Aufschub: Ich spürte sofort, dass die Recherchen sehr aufwändig und kompliziert werden.
Akribische Nachforschungen zeichnen aber doch alle Ihre historischen Romane aus …
Stimmt. Aber nicht nur das politische Umfeld, in dem Mentona Moser lebte, war schwierig, ihr Schicksal und familiäres Umfeld waren ebenfalls vielschichtig. So erlebte sie etwa in London, wie die Arbeiterschaft ihr Dasein in Armut fristete, und in Zürich, welch fatale Folgen die grassierende Tuberkulose hatte. In Russland, wo sie ein Kinderheim mit Tagesschule aufgebaut hatte, bekam sie hautnah mit, wie Stalins Gewaltregime immer aggressiver wurde, und in Berlin, wie der Terror der Nazionalsozialisten um sich griff.
Was hat Sie an dieser mutigen Frau am meisten fasziniert?
Dass sie trotz aller Widrigkeiten und Enttäuschungen ihren Kampf für eine sozialere und gerechtere Welt nie aufge-geben hat. Sie hat sich nicht unterkriegen lassen, obwohl ihre schwerreiche Mutter ihr wegen ihres Sozialengagements jegliche finanzielle Unterstützung strich und sie auch dann nicht unterstützte, als ihr Ehemann sie mit der Tochter und dem behinderten Sohn sitzenliess. Sie rückte auch nicht von ihrer Vision ab, als sich ihre Hoffnungen auf einen gesellschaftlichen Neuanfang in einer kommunistischen Gesellschaft zerschlugen und die Nazis ihr letztes Vermögen beschlagnahmten, weil sie sich gegen deren Regime aufgelehnt hat.
Die Kindheit der Protagonistin nimmt im Buch viel Platz ein. Weshalb?
Weil ich mich noch nie einer solch verrückten Kindheit angenähert habe, wie sie Mentona Moser auf Schloss Au am Zürichsee erlebt hat. Ihre Mutter, eine der ersten Patientinnen von Sigmund Freud, sagte später, sie habe ihr zweites Kind gehasst. Sie war nämlich fest davon überzeugt, dass sie ihrem Mann, der vier Tage nach Mentonas Geburt gestorben war, hätte helfen können, wenn sie nicht im Wochenbett gelegen wäre. Man kann sich kaum vorstellen, was dieser Hass für ein Kind bedeutet.
Mentona Moser setzt die Reihe der vergessenen Frauenfiguren wie Anna Göldin und Emily Kempin-Spyri fort. Wie wichtig ist es, dass Sie diesen Persönlichkeiten in Ihren Büchern ein Denkmal setzen?
Starke und visionäre Frauen wurden in unserer Gesellschaft in der Vergangenheit vielfach unterdrückt, verfolgt und verdrängt. Es ist höchste Zeit, dass man sie ins Bewusstsein zurückholt, ihre Leistungen würdigt. Mit der Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz vor 50 Jahren wurde zwar ein wichtiger Schritt gemacht, aber es gibt immer noch viel zu tun, bis Frauen ein Dasein als gleichberechtigte Menschinnen führen können.
Glauben Sie, dass Aktionen wie der letztjährige Frauenstreik helfen, die Position der Frauen zu stärken?
Solche Anlässe sind leider immer noch notwendig, und ich finde es grossartig, dass der Frauenstreik so erfolgreich war. Das erfüllt mich mit Zuversicht.
Ihre schriftstellerische Karriere hat nicht mit Romanen, sondern mit Kinder-und Jugendbüchern begonnen. Dass Sie so gut Geschichten erzählen können, scheint in der Familie zu liegen.
Meine Mutter, die viel las und ein lebensfroher Mensch war, hatte tatsächlich eine grosse Fantasie. Und mein Vater, der in jungen Jahren sieben Jahre als Buchhalter im berühmten Warenhaus Macy’s in New York gearbeitet hatte, konnte herrliche Geschichten aus seiner Zeit in den USA erzählen. Darin lagen Wirklichkeit und Fiktion oft nahe beieinander.
Als Sie neun Jahre alt waren, liessen sich Ihre Eltern scheiden. Sie und Ihre Schwester durften wählen, bei wem Sie fortan leben wollen. Sie haben sich für den Vater entschieden. Wie haben Sie diese Zeit in Erinnerung?
Ich war damals im Glarnerland das einzige Scheidungskind weit und breit, wurde entsprechend skeptisch beobachtet und mit Vorurteilen konfrontiert. Dabei war mein Vater ein wunderbarer Mensch und hat sich stets liebevoll um mich gesorgt, obwohl er sehr viel gearbeitet hat.
Wie hat sich die Scheidung auf das Verhältnis zu Ihrer Schwester und Mutter ausgewirkt?
Sowohl mein Vater wie auch meine Mutter haben nach der Scheidung wieder geheiratet und weitere Kinder bekommen, was für uns Töchter aus erster Ehe nicht ganz einfach war. Ich habe mich aber stets bemüht, mit meiner Mutter Kontakt zu halten, und als ich Kinder bekam, hat sie mit ihnen Ausflüge gemacht und sie mit Geschenken verwöhnt. Weil meine Schwester und ich sehr unterschiedlich aufgewachsen sind, haben wir uns in jungen Jahren wenig gesehen. Im Alter haben wir uns aber wiedergefunden.
«Wir müssen der Welt Sorge tragen»
Pflegen Sie als Mutter und Grossmutter den Dialog zwischen den Generationen?
Ich finde den Austausch zwischen Jung und Alt enorm wichtig und bereichernd. Und ich glaube, dass es auch die Enkelkinder schätzen, wenn sich ihre Grosseltern um sie kümmern, an ihrem Leben teilnehmen und sich aktiv einbringen.
Und was halten Sie von der Fridays-for-future-Bewegung?
Es stimmt mich optimistisch, dass es Greta Thunberg gelungen ist, die Jugend zu mobilisieren. Es kommt mir beinahe so vor, als ob sie uns vom Schicksal geschickt worden sei, um die Gesellschaft als eine Art kleine Jeanne d’Arc für die Umweltproblematik zu sensibilisieren. Wir haben nur diese eine Welt und müssen zu ihr Sorge tragen. Das betrifft auch uns Alte. Wir müssen unser Wissen und unsere Erfahrung unbedingt in die Diskussionen einbringen, müssen Stellung beziehen und dürfen die jüngeren Generationen nicht einfach im Stich lassen.
Sie sind seit über 50 Jahren mit Paul Hasler verheiratet, dürfen mit ihm zusammen alt werden.
Das ist etwas sehr Wertvolles und verleiht unserer Beziehung eine besondere Qualität. Wir sind dankbar, dass wir immer noch gemeinsam Dinge unternehmen oder uns an den Wundern der Natur freuen können, dass wir Freud und Leid teilen dürfen und uns über all die Dinge unterhalten können, die uns am Herzen liegen und beschäftigen.
Diskutieren Sie mit Ihrem Mann auch über Ihre Bücher?
Ja, denn er ist einer meiner Erstleser. Er ist aber als ehemaliger Mathematiklehrer eher naturwissenschaftlich orientiert und beurteilt die Bücher aus einer ganz anderen Perspektive als ich. Er will in die Geschichten hineingezogen werden und spürt sofort, wenn die Proportionen oder inneren Bilder nicht ganz stimmig sind oder der Lesefluss unterbrochen wird. Dieses Feedback ist wertvoll für mich.
Auf welche Art von Lesestoff dürfen sich Ihre Fans denn als Nächstes freuen?
Ich spreche eigentlich nie über meine Projekte, aber «Tochter des Geldes» war wohl mein letzter aufwändig recherchierter Roman. Ich möchte aber gern noch ein Buch über Liebesgeschichten im Tessin schreiben. Dabei soll nicht nur die klassische Zweierbeziehung im Zentrum stehen, ich möchte den Begriff Liebe viel breiter fassen.
Älterwerden hat Sonnen-und Schattenseiten. Wie kommen Sie damit zurecht?
Ich bin selber erstaunt, wie schön und entspannend ich das Altwerden empfinde. Ich kann mir für alles Zeit lassen, geniesse jedes Zusammensein mit meinem Mann und der Familie, die Gespräche mit Freunden, die Ausflüge, die Natur. Man muss die Daseinsfreude im Alter kultivieren, sich und seinem Körper Gutes tun. Dass ich diese Lebensphase so positiv erlebe, liegt sicher auch daran, dass ich bis jetzt fast immer gesund bleiben durfte.
Letztes Jahr mussten Sie jedoch einen Eingriff an Ihrem Rücken über sich ergehen lassen. Wie geht es Ihnen heute?
Sehr gut, dank eines hervorragenden Chirurgen, der mich an der Zürcher Universitätsklinik Balgrist operiert hat. Ich litt an einer sogenannten Spinalkanal-Stenose, die so starkes Rückenweh verursacht hat, dass ich kaum mehr sitzen konnte und erstmals im Leben Schmerzmedikamente einnehmen musste. Ich würde diesen minimalinvasiven Eingriff sofort wieder machen lassen.
Macht Ihnen der Gedanke ans Sterben keine Angst?
Nein, denn das ist ein natürlicher Vorgang. Zudem glaube ich fest daran, dass nur der Körper stirbt, der Geist hingegen in eine andere Welt übergeht. Ich finde es bedauerlich, dass man sich heute schon fast dafür entschuldigen muss, wenn man beispielsweise an Gott glaubt. Dabei ist es doch etwas Wunderbares, dass es Geheimnisse und Mysterien gibt, die wir mit unserem Verstand nicht ergründen können.
Vor über 25 Jahren haben Sie der Deutschschweiz den Rücken gekehrt und Ihren Wohnsitz ins Tessin verlegt. Sind Sie immer noch glücklich mit dieser Wahl?
Und wie! Mein Mann und ich fühlen uns hier rundum wohl. Ich liebe die Leute, die Kultur, die Sprache, das Essen, die Landschaft und insbesondere die Flora und Fauna mit ihren intensiven Farben.
Ein Lebensgefühl, das sich in Ihren fröhlich-bunten Aquarellen widerspiegelt.
Was bringt Ihnen das Malen? Es stellt mich auf und ist ein fantastischer Ausgleich zu meinen oft sehr intensiven Buchrecherchen. Beim Malen kann ich meine Batterien am besten wieder aufladen.
Unser aller Alltag wird derzeit vom Coronavirus dominiert, das Tessin gehört zu den besonders betroffenen Regionen. Wie gehen Sie mit dieser ausserordentlichen Situation um?
Die Corona-Pandemie ist die grösste Herausforderung, der wir uns seit dem Zweiten Weltkrieg stellen müssen. Die jetzige Situation ist für alle sehr schwierig und wir müssen sie gemeinsam meistern. Ich hoffe fest, dass dieser Ausnahmezustand nicht allzu lange dauern wird, wenn wir uns an die Regeln und Massnahmen des Bundesrates halten. ❋
«Tochter des Geldes: Mentona Moser – die reichste Revolutionärin Europas», Roman eines Lebens, Nagel & Kimche, Zürich 2019.
Chronistin der Vergessenen
Eveline Hasler, geborene Schubiger, hat sich mit ihren historischen Romanen und ihrer Lyrik, mit ihren Kinderbüchern, Kolumnen, Erzählungen, Gedichten und Reportagen einen Namen geschaffen, der weit über die Landesgrenze hinausreicht. Den literarischen Durchbruch schaffte sie 1982 mit «Anna Göldin, letzte Hexe», seither wurden ihre Bücher in über zwölf Sprachen übersetzt und sie wurde für ihr Werk mehrfach ausgezeichnet. Sie wurde 1933 in Glarus geboren und ist dort auch aufgewachsen. Sie studierte in Fribourg und Paris Psychologie und Geschichte und arbeitete einige Zeit als Lehrerin, bevor sie zu schreiben begann. Mit Ehemann Paul ist sie seit über 50 Jahren verheiratet. Das Paar lebt seit gut 25 Jahren im Tessin und hat zwei erwachsene Töchter und einen Sohn sowie drei Grosskinder.