32. Kleine Geschäfte Aus «Politiker wider Willen»
Pilet übergibt seine Anwaltsgeschäfte den Kollegen in der Kanzlei, löst den Haushalt in Lausanne auf und richtet sich mit Frau und Söhnchen in einem gediegenen Haus am Scheuerrain 7 im Berner Monbijouquartier ein. Das auf einem Landvorsprung über der Aare gelegene Haus war damals noch dans la campagne, wie sich Mme Pilet-Golaz später erinnerte, mit Blick auf Wiesen und Kühe. Ein Vorteil ist, dass in der Nachbarschaft auch einige Welsche leben. Die Bundesräte Haab und Häberlin, wohnen beide nur ein paar hundert Meter weit weg an der Schwarztorstrasse. Das Bundeshaus kann Pilet bequem zu Fuss oder mit dem Tram erreichen.
Keiner der bisherigen Bundesräte hat Lust, das Departement zu wechseln. Der Neuling Pilet-Golaz übernimmt deshalb dasjenige seines Vorgängers Chuard, das Departement des Innern. Dem ehemaligen Bellettrien gefällt es, jetzt die Aufsicht über das Kulturwesen und die ETH zugeteilt zu erhalten. Viel Zeit und Energie wird der Pilet, Seebub aus Ouchy, dem ihm unterstellten Amt für Wasserkraft widmen.
Der neue Bundesrat lernt seine Mitarbeiter im Departement kennen und studiert die anstehenden Dossiers. An den Bundesratssitzungen hält er sich zurück – die neuen Kollegen sind alle seit mindestens neun Jahren im Amt und mindestens 13 Jahre älter. Der Benjamin hört zu und beobachtet.
Am 6. März 1929 gibt er im Nationalrat seinen Einstand auf der Bank der Bundesräte. Es ist ungewohnt, dort ein «jugendliches Gesicht zu sehen», wie Grellet feststellt. Obschon erst einige Wochen im Amt, wirkt Pilet auf diesem «wie eine Festung exponierten, strategischen Posten» locker und natürlich. In kurzer Zeit hat er sich mit neuen Materien vertraut gemacht. «Seine Zuhörerschaft hatte den angenehmen Eindruck über das, was man wissen muss, genau informiert zu werden.»
Es geht um eine eher banale Sache. Der Bundesrat hatte beantragt, für eine Rheinkorrektur dem Kanton Graubünden eine Subvention von 40 Prozent der Kosten zuzuerkennen. Der Ständerat stimmte für eine Erhöhung des Bundeszuschusses auf 45 Prozent, doch der Bundesrat will am niedrigeren Prozentsatz festhalten. Der Unterschied ist gering, aber zu einem Zeitpunkt, wo nach 16 Jahren Defizit der Bundeshaushalt endlich wieder im Lot ist, wächst die Begehrlichkeit der Subventionsjäger.
Für die Erhöhung des Bundesbeitrags «läutet» der Bündner Nationalrat von Moos «mit voller Kraft die Glocken seines Kirchturms. Auf diesem Gebiet sind die Bündner allgemein, von Moos speziell, die grossen Virtuosen.» Seine Kollegen stimmen nur allzu gerne einer Erhöhung der Subvention zu. Dann spricht Pilet. Er erinnert daran, dass der Bund vor zwei Jahren dem von Überschwemmungen heimgesuchten Kanton Graubünden mit 5½ Millionen zu Hilfe kam. Im gegenwärtigen Fall gehe es bloss um Reparatur- und Instandstellungsarbeiten am Rhein. Wenn man den üblichen Prozentsatz übersteige, schaffe man einen gefährlichen Präzedenzfall. Überraschend gibt der Nationalrat Pilet mit 70 zu 52 Stimmen recht. Worauf auch der Ständerat mit 18 zu 10 Stimmen Bundesrat und Nationalrat folgt. Ein kleiner Sieg für den neuen Bundesrat, aber immerhin ein Sieg.
Am 13. Juni fährt Pilet mit den freisinnigen Bundesräten Haab, Häberlin und Scheurer nach Langnau, wo die radikale Fraktion sich trifft. Nachher fahren die vier über Sumiswald, Affoltern und Kaltacker nach Bern zurück. Scheurer notiert in sein Tagebuch:
Das Ganze ist etwas nass; aber der Wein ist gut, und das Zusammensitzen hat auch seine Berechtigung, namentlich auch gegenüber Pilet, den wir ja eigentlich noch so wenig kennen.
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Bei den Auftritten Pilets vor den eidgenössischen Räten geht es in seinem ersten Amtsjahr fast immer um Subventionen. Mehr Bundesgeld wünschen auch die Schriftsteller. Für einmal, spottet Grellet, rede man im Parlament über Literatur, was «die aus Beamten und Landwirten bestehende Kammer, die der Nationalrat nun einmal ist, offen gesagt nur mässig interessiert.» Die Herren hätten Mühe zwischen Schriftstellern, Gerichtsschreibern, Schreiberlingen und Notaren zu unterscheiden. Der Luzerner Stadtpräsident Zimmerli plädiert für eine Erhöhung der Subvention an den Schriftstellerverein von fünftausend auf dreissigtausend Franken:
Wir haben uns gegen eine geistige Invasion der Schweiz zu wehren. Ausländische Kinoromane werden unseren Zeitungen nicht nur gratis, sondern sogar mit Draufzahlung zu Reklamezwecken angeboten. Der Schweizerische Schriftstellerverein sorgt dafür, dass gute Feuilleton-Literatur angeboten wird.
Pilet nimmt das Postulat entgegen, ist aber mit Zimmerli nicht ganz einverstanden.
Auf literarischem Gebiet werden wir die Massenproduktion, die ihre Erzeugnisse wie Sardinenbüchsen auf den Markt wirft, nicht unterdrücken können. Wir können höchstens die guten Schriftsteller ermutigen. Dies ist aber in erster Linie Aufgabe der Kantone und der Universitäten. Sie sind die Brennpunkte unseres geistigen Lebens. Seitdem das günstige Ergebnis der letzten Staatsrechnung durch die Presse bekannt geworden ist, bricht eine wahre Sintflut an Subventionsgesuchen über mein Departement herein. Vergessen wir nicht, dass – mehr als das Geld – die geistige Kraft die Grundlage für das Wohlergehen einer Nation ist.
Schliesslich zeigt sich der Bundesrat gleichwohl grosszügig. Im Budget für 1930 wird die Subvention für den Schriftstellerverband um 25 000 Franken auf 30 000 Franken erhöht. Ausserdem erhält die Schillerstiftung zu ihrem 50. Geburtstags eine Schenkung von 50 000 Franken.
Im August gönnt sich Pilet zusammen mit Frau und Söhnchen am Adriastrand im Palace Hotel von Portorose, damals noch in Italien, seine ersten Sommerferien als Bundesrat.
Im Herbst geht es im Parlament um die Gefährdung der italienischen Kultur in der Schweiz – ein Dauerthema. Zwei Drittel der Hotels im Tessin gehören Deutschschweizern, von den 32 Zahnärzten im Kanton sind 22 Deutschschweizer. Kommt dazu die Entvölkerung der Bergtäler. So ist im Maggiatal zwischen 1850 und 1920 die Einwohnerzahl um die Hälfte geschrumpft.
Bundesrat Pilet-Golaz zeigt Verständnis: Das Tessin ist nicht einfach ein Kanton, sagt er, sondern die Hüterin eines wesentlichen Teils unseres geistigen Erbes. Getrennt vom Rest der Schweiz und ohne Hinterland, muss es an Ort Widerstand leisten. Deutschschweizer Kaufleute, Industrielle und Hoteliers bilden je länger, je mehr das Bürgertum des Kantons und verdrängen die Einheimischen. Die italienische Sprache ist auf dem Rückzug, weil die deutschsprachigen Einwanderer nur unter sich leben. Die von der Tessiner Regierung unternommenen Anstrengungen zur Erhaltung von Sprache und Kultur sind teuer. Pilet-Golaz will ein verfassungsmässiges Mittel suchen, um den ticinesi zu helfen.
Das Tessin hat keine eigene Hochschule, die Tessiner Studenten müssen Deutsch lernen, wenn sie in Zürich am Poly den Vorlesungen folgen wollen. Pilet empfängt eine Delegation eines Fördervereins, die um Subventionen für Deutsch-Fortgeschrittenenkurse an Tessiner Gymnasien nachsucht. Der Bundesrat will sehen, was sich tun lässt. Typisch Pilet, lässt er einen seiner Sprüche fallen: «Ich habe einen Sohn, der die deutsche Sprache lernen muss. Ich werde ihn nach Locarno oder Lugano in die Schule schicken.»
- Jeweils sonntags wird der Roman «Politiker wider Willen. Schöngeist und Pflichtmensch» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
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«Politiker wider Willen»
Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen Wissens, seiner militärischen Kenntnisse und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.
«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.
Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch
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Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany