«Ich fühle mich bei Seniorinnen und Senioren sehr wohl»
Nach einem Herzstillstand musste Marguerite Paus-Luiselli vor sieben Jahren alles neu erlernen. Durch eine Hirnverletzung waren all ihre Erinnerungen verloren. Die heute 46-Jährige kämpfte sich zurück – und engagiert sich als freiwillige Helferin für Seniorinnen und Senioren.
Der Prix Sana ehrt jährlich Persönlichkeiten, die sich unermüdlich für die Gesundheit von anderen, oft benachteiligten Menschen einsetzen. Seit 2011 erhielten 33 Personen den Preis, der von der Fondation Sana vergeben wird. Die Fondation Sana ist eine gemeinnützige Stiftung im Gesundheitswesen und Hauptaktionärin der Helsana AG. Den Prix Sana 2023 gewannen Marguerite Paus-Luiselli aus Buchs AG, Martin Bieri aus Kräiligen BE und Mireille May aus Sarreyer VS. Weitere Infos und Nominationseingaben für den Prix Sana 2024 finden Sie auf prixsana.ch.
Die Zeitlupe sprach mit Marguerite Paus-Luiselli, deren erstaunlicher Weg die Fondation Sana wie folgt zusammenfasst: «Die an der ETH Zürich promovierte Agrarwissenschaftlerin Marguerite Paus-Luiselli war Professorin und erfolgreiche Forscherin, bis ein Herzstillstand ihr Leben veränderte. Während einer langen Rehabilitationszeit kämpfte sie sich zurück ins Leben und musste alles neu lernen. Heute engagiert sich die Aargauerin als freiwillige Helferin, insbesondere für Seniorinnen und Senioren. Mit bemerkenswerter Hingabe, Freude und Ernsthaftigkeit nutzt sie ihr zweites Leben, um andere Menschen zu unterstützen.»
Interview: Fabian Rottmeier
Ein Herzstillstand hat Ihr Leben 2016 auf den Kopf gestellt. Weshalb beschlossen Sie danach, sich als freiwillige Helferin zu engagieren?
Es begann alles mit der Frage: Was soll ich nun tun? Nach meiner mehrmonatigen Rehabilitationszeit war ich an einen Punkt gekommen, an dem ich in meinen Therapien zu wenig weitere Fortschritte erzielte. Nur dank des Vereins Fragile Suisse, der sich für Menschen mit einer Hirnverletzung einsetzt, erhielt ich weiterhin eine therapeutische Nachbearbeitung. Eine Musiktherapeutin, die ich an der Klinik Rehab Basel kennengelernt hatte, vermittelte mir schliesslich die Möglichkeit, mich einem Seniorenchor in Lenzburg anzuschliessen.
Wie wurden Sie dort aufgenommen?
Man hat sich dort sehr liebevoll um mich gekümmert und mich für die Proben auch am Bahnhof abgeholt. Die gesamte selbständige Hin- und Rückreise hätte mich damals überfordert. Die Sängerinnen und Sänger wollten wissen, wo ich denn im Alltag am meisten Hilfe brauche. Ich antwortete: Bei fast allem. Eine der Seniorinnen bot mir spontan an, mich zum Einkäufen zu begleiten und anschliessend bei ihr zusammen zu kochen. Ich fand diese Idee sehr schön. Bald realisierte ich, dass diese Frau unsere gemeinsame Zeit ebenso schätzte – weil sie allein ist. Das war für mich ein Schlüsselmoment. Plötzlich wusste ich, was ich anderen geben kann: ein bisschen Zeit.
Für wen leisteten Sie Ihre ersten Einsätzen als Freiwillige?
Fürs Rote Kreuz. Erst zwei Jahre später habe ich in meinen alten Unterlagen entdeckt, dass ich mit 18 Jahren mit dem Gedanken spielte, mein berufliches Glück beim Roten Kreuz zu suchen! Sie müssen dazu wissen, dass ich alle meine Erinnerungen an mein Leben vor dem Herzstillstand verloren habe. Bei diesen ersten Einsätzen bestätigte sich mein Gefühl, dass ich mich unter älteren Menschen sehr wohl fühle. Auch, weil unsere Lebenssituationen oft ähnlich sind.
«Ich habe gelernt, geduldig zu sein. Und, wie wichtig soziale Kontakte sind.»
Inwiefern? Durch Ihre Hirnverletzung als Folge des Herzstillstandes?
Ja. Uns vereint, dass wir schneller ermüden und Schmerzen zu unserem Alltag gehören. Auch, dass wir im Alltag viel Struktur brauchen. Wiederholende Termine sind idealerweise immer am selben Wochentag, sonst sind wir verloren.
Wie viele Stunden wenden Sie wöchentlich als Helferin auf?
Das ist unterschiedlich. Schätzungsweise etwa zehn Stunden vielleicht. Mein zweites Engagement begann ich bei Pro Senectute – als Nachfolgerin einer Nachbarin, die aufhören wollte. Heute bin ich für sieben Organisationen und Dienstleister als freiwillige Helferin aktiv, etwa in zwei Alters- und Pflegezentren in Suhr. Ich kann so nachbarschaftliche Kontakte pflegen, wie ich es vor meinem Herzstillstand nie tun konnte. Mein Leben war durchgetaktet. Alles war schnell, schnell, schnell. Schnell nach Bern, schnell nach Oberzollikofen und so weiter.
Was bereichert Ihr Leben als Helferin am meisten?
Dass ich spüre, dass die Türen für mich immer offen sind. Dass ich oft ein Lächeln von den Seniorinnen und Senioren erhalte – oder einen Tee wie soeben bei meinem jetzigen Besuch, den ich für dieses Gespräch kurz unterbrochen habe. Das ist sehr lieb.
Was konnten Sie von den Seniorinnen und Senioren lernen?
Sehr viel. Ich habe gelernt, auf Alarmglocken zu hören. Wie stark sich positives Denken auf unsere Gesundheit auswirkt. Ich habe gelernt, geduldig zu sein. Und, wie wichtig soziale Kontakte sind.
Hat sich durch diese Freiwilligenarbeit Ihre Perspektive aufs Älterwerden geändert?
Ich denke gar nicht so weit, weil ich einen Tag nach dem anderen leben muss. Im vergangenen Jahr landete ich wegen meines Herzens erneut in der Notfallaufnahme. Aber, um vielleicht auf die Frage zurückzukommen: Natürlich, es tut auch weh, wenn ich in einem der beiden erwähnten Pflegezentren, wo ich Einsätze leiste, Menschen mit Demenz begleite. Man weiss nie, was im Leben noch auf einen zukommt. Deshalb versuche ich, das Heute zu geniessen. Morgen ist ein anderer Tag.
«Es ist sehr schwierig, zu vermitteln, was es heisst, hirnverletzt zu sein.»
Es muss auch schmerzhaft sein, dass Sie Ihr Wissen als Professorin für Agrarwissenschaften nicht mehr weitergeben können.
Ja, sehr sogar. Davon muss ich mich auch ablenken. Die Freiwilligenarbeit wurde zu meinem neuen Weg, den ich zum Glück gefunden habe. Familie und Freundinnen sagen mir, ich lächle viel öfter als früher. Weil ich Zeit statt Stress habe. Der Inhalt meiner Arbeit hatte mich früher so gefesselt, dass ich manchmal bis zwei Uhr nachts gearbeitet habe. Mein Gehirn ist durch den Sauerstoffmangel nach dem Herzstillstand stark geschädigt worden. Das ist auf den MRI-Aufnahmen ersichtlich. Vor sechs Jahren hätte ich dieses Gespräch unmöglich führen können. Ich musste alles neu lernen. Gehen, Sprechen. Alles. Ein zweites Leben begann – übrigens genau heute, als wir dieses Gespräch führen. Heute ist quasi mein zweiter siebter Geburtstag. Es ist sehr schwierig, zu vermitteln, was es heisst, hirnverletzt zu sein. Und ich fürchte, dass auch mein Sohn darunter leidet.
Für Ihren Einsatz als freiwillige Helferin erhielten Sie kürzlich den Prix Sana. Wer hatte Sie für diese Auszeichnung nominiert?
Insgesamt 25 Personen. Darunter waren Freunde, aber vor allem Menschen, die ich aus meinen Einsätzen beim Roten Kreuz, bei Pro Senectute, in einer Kreativgruppe oder in der Kirchgemeinde kennengelernt hatte. Aber auch eine Neuropsychologin von Rehab Basel, der Klinik für Neurorehabilitation und Paraplegiologie. Sie hat mich dort bei meinem stationären Aufenthalt fünf Monate lang fast täglich begleitet.
Den Preis haben Sie Anfang November an einer Verleihung erhalten.
O, das war ein Geschenk! Mein Sohn und mein Mann waren da, und meine Eltern waren extra aus Frankreich angereist. Angesichts ihres Alters war das nicht selbstverständlich. Ich bin glücklich, dass mit diesem Preis die Freiwilligenarbeit geehrt wird. Ich finde, man sollte diese Einsätze mehr wertschätzen. Es gibt so viele Leute, die sich für andere engagieren, und nur wenige, die eine Anerkennung dafür erhalten. Deshalb widme ich meine Auszeichnung all den Tausenden Helferinnen und Helfern.
Jetzt jemanden für den Prix Sana 2024 nominieren? Weitere Infos zur Eingabe auf prix-sana.ch oder Telefon 031 368 15 83