Kistenweise Erinnerungen

Das Tessin ist für Regula Stern-Griesser aus Locarno die ideale Mischung aus Italien und der Schweiz. Bei Zürich aufgewachsen, zog sie als junge Frau zu ihrem Mann nach San Remo und schliesslich mit der Familie ins Tessin. Ihrer Leidenschaft fürs Schreiben blieb sie bis heute treu.

Weil ich mit grossem Abstand als Nachzüglerin zur Welt kam, nannten mich in der Familie alle immer nur «die Kleine» – auch als ich längst erwachsen war und Kinder hatte. Meine Eltern heirateten 1933 und ich wuchs in Rüschlikon ZH auf. Mein Vater brachte als Witwer zwei Kinder mit in die Ehe, die meine Mutter – wie viele Frauen früher – ganz selbstverständlich wie ihre eigenen grosszog. Sie war die gute Seele unserer Familie und kümmerte sich immer um alle anderen zuerst. Das Foto von 1945 zeigt, wie nahe wir uns standen.

Das waren noch Zeiten: Regula Stern sitzt als kleines Mädchen ihrer Mutter auf dem Schoss.

Als ich mit elf Jahren meine erste Kamera erhielt, stand mein Traumberuf fest: Fotografin. Dass ich meinen früheren Berufswunsch Kindergärtnerin aufgab, enttäuschte meinen Vater sehr. Da er selbst nach dem Tod seines Vaters die Handelsschule abbrechen und für Mutter und Schwestern sorgen musste, wünschte er sich für mich eine solidere Ausbildung und eine sicherere Zukunft. Nach einer verkürzten Banklehre brachte er es beim Bankverein am Paradeplatz bis zum Prokuristen.

Ich absolvierte die «Fraueli», die Frauenbildungsschule in Zürich, damals noch in den Räumlichkeiten des früheren Klosters beim Grossmünster. Teil der Ausbildung waren auch ein Rot-Kreuz-Kurs für häusliche Krankenpflege und ein Praktikum im Spital. Gemäss unserer Rektorin Fräulein Prof. Dr. Hedwig Strehler sollten wir Frauen erst zeigen, was wir der Gesellschaft bieten, bevor wir das Stimmrecht forderten. Später leistete ich deshalb auch Dienst im militärischen Rotkreuzdienst.

Traumberuf Fotografin

Weil ich nach dem Diplom Geld für meine Fotografie-Ausbildung brauchte, heuerte ich in einer Werbeagentur an und wurde berufsbegleitend Werbeassistentin. Als ich zuhause ausziehen wollte und in Zürich ein Zimmer mietete, pfiff mich mein Vater zurück. Obwohl ich bereits über zwanzig war, schickte es sich für eine Frau nicht, allein in einer eigenen Wohnung zu wohnen.

In Zürich machte ich unter anderem Werbung für Shell und später in Biel für die Konkurrentin BP. Zugleich kamen die ersten Papierservietten auf, die wir bewarben. Wenn ich zurückdenke, wie aufwändig wir früher Flyer und Inserate gestalteten und druckten, kommt mir das wie eine andere Welt vor. Heute kann ich solche Schriften ganz einfach selbst am Computer erstellen.

Dass ich schliesslich doch nicht Fotografin wurde, daran ist mein Mann schuld, den ich als Cousin einer Freundin kennenlernte. Seine Familie führte in San Remo eine grosse Gärtnerei für Schnittblumen und Sukkulenten. Als er mich zum Bewerbungsgespräch in der Werbeabteilung eines grossen Modeversandgeschäfts in Deutschland fuhr, erhielt ich den Job nicht. Die Firma dachte angesichts der italienischen Autonummer wohl, ich würde sowieso bald heiraten und wegziehen.

Als Auslandschweizerin in San Remo

Tatsächlich hätte ich zu Beginn nie gedacht, dass ich einmal diesen eher trockenen Herrn Stern heiraten würde, der nicht einmal recht tanzen konnte… Doch er blieb hartnäckig. Über viele Briefe entstand eine Freundschaft: Wir heirateten 1965 in Rüschlikon und ich zog zu meinem Auslandschweizer-Ehemann nach San Remo. Die Familiengärtnerei dort bestand bereits seit 1889.

In Italien lernte ich eine ganz andere Welt kennen als den «Beamtenhaushalt», in dem ich aufgewachsen war. In meiner Kindheit hatte das Mittagessen immer pünktlich auf dem Tisch zu stehen. Wer zu spät kam, musste bis zum Ende der Nachrichten draussen warten. Im Familienbetrieb in San Remo hingegen richtete sich alles nach den Wünschen der Kundinnen und Kunden. Erst wenn die letzten bedient waren, sass man zu Tisch. Für mich war die Zeit im Familienunternehmen nicht einfach, da ich es gewohnt war, selbstständig zu arbeiten und nun die Arbeit von der Schwägerin zugewiesen bekam.

1972 zügelten mein Mann und ich mit unseren zwei kleinen Söhnen ins Tessin. Dort fanden wir die ideale Mischung aus italienischer Lockerheit und Schweizer Zuverlässigkeit. Zudem konnten wir im Tessin endlich abstimmen – als Auslandschweizer war dies auch meinem Mann verwehrt und als Frau hatte ich das Stimmrecht sowieso erst seit 1971. Ich engagierte mich in der reformierten Kirche und ab 1974 bei der Konsumentinnen-Organisation der Südschweiz (acsi – associazione delle consumatrici della Svizzera italiana). Themen wie beispielsweise Recycling oder phosphatfreies Waschen waren damals aktuell.

Die Leidenschaft fürs Schreiben

Da ich immer gern geschrieben hatte, begann ich, für verschiedene Zeitschriften Beiträge über das Alter und über Tessiner Themen zu verfassen – auch für die Zeitlupe. Ich muss sagen: Die Zeitschrift hat sich vom damaligen «Blettli» zum modernen Magazin entwickelt.

Dem Schreiben blieb ich bis heute treu. In meiner Wohnung, in der ich seit dem Tod meines Mannes vor fünf Jahren allein lebe, bin ich umgeben von Schachteln, Kisten und Couverts mit Zetteln, Fotos und Gegenständen, die ich aufarbeiten und verschiedenen Archiven übergeben möchte. Anhand der rund 10‘000 Geschäftspostkarten und unzähligen Fotos aus dem Familienbetrieb meines Mannes will ich etwa die Geschichte des Schweizer Schnittblumenpioniers Hermann Stern in San Remo verfassen. In den Zeiten vor Fax, E-Mail und Internet korrespondierte er im letzten und vorletzten Jahrhundert per Postkarte mit seiner Kundschaft aus der ganzen Welt.

Weiter schreibe ich an einem Kochbuch mit Familienrezepten und vor allem -geschichten und halte in meinen «Enkelgeschichten» Erinnernswertes über anno dazumal für die nächsten Generationen fest. Etwa wie ich noch mit Griffel und Schiefertafel zur Schule ging und es einfach nie schaffte, den hölzernen Tafelrand übers Wochenende wieder blitzblank zu schrubben. Oder wie mühsam wir Frauen früher mit Damenbinden und Hüftgürtel hantieren mussten.

Die Fäden der Erinnerung

Beginnt man einmal, an den Fäden der Erinnerung zu ziehen, kommt immer mehr zutage. Das habe ich bei mir selbst und als Organisatorin und Moderatorin eines Erzählcafés für Frauen oft erlebt. Am Nachmittag zum Thema Aufklärung und Familienplanung erzählten viele, wie naiv sie als junge Frauen in diesen Dingen waren. Auch meine Mutter tat sich schwer, als meine ältere Schwester fand, sie solle «s‘Rägi» doch endlich aufklären. So erfuhr ich zwar, wie die Kinder zur Welt kommen – nicht aber, wie sie in den Bauch hineingelangen. Beim gemeinsamen Austausch im Erzählcafé staunten und lachten wir deshalb viel. Und es tat gut zu spüren, dass wir mit diesen Erlebnissen nicht allein waren.

Pflegende Angehörige im Alter, der Umgang mit dem Rollator im öffentlichen Verkehr oder der richtige Moment, um aufs Alter hin nochmals zu zügeln – es gibt noch so viel, wofür ich mich einsetzen und worüber ich berichten möchte. Ich hoffe einfach, dass mir für all meine Projekte genug Zeit bleibt.

Aufgezeichnet von Annegret Honegger


  • Weitere Erinnerungen der Zeitlupe-Leserinnen und -Leser finden Sie in der Rubrik Anno dazumal
Beitrag vom 14.08.2023

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