© Gerard Visser

Teil 2: Behandlung des Brustkrebses  Tagebuch einer Sterbenden

Die Diagnose ist zwar noch jung. Der Onkologe der Hirslandenklinik Aarau will rasch möglichst mit der Chemo starten. Das ist mir recht. Der Ablauf ist immer derselbe. Zuerst wird Blut abgenommen und analysiert. Dann bespricht der Arzt mit mir die Resultate. Davon ist abhängig, ob ich jeweils meine Chemo bekomme. 

Der Onkologe vermittelt wahrscheinlich jeder und jedem Krebskranken das Gefühl, seine Lieblingspatientin, sein Lieblingspatient zu sein. Er schaut mir in die Augen und gibt mir genügend Raum, über meine Ängste und andere Gefühle zu reden. Ich erzähle, wie es mir nach der letzten Chemo erging, stelle meine Fragen oder bitte um Rezepte, damit sich die Nebenwirkungen im Griff halten lassen. Für all meine Anliegen nimmt sich der Arzt viel Zeit.

Heute stehen die Ampeln auf grün. Wir beginnen mit einer Infusion, darin ist das Chemotherapeutikum Epirubicin enthalten. Die Flüssigkeit ist orange, deshalb bezeichnen sie andere Patienten als «Campari Orange». Humor ist immer hilfreich. Wir lachen miteinander. Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft. Die Flüssigkeit wird rund eine Stunde lang in meinen Körper gelassen. Ich meditiere, lese oder unterhalte mich mit anderen Patientinnen und Patienten. Epirubicin wird seinem Namen gerecht: Bekomme ich es verabreicht, verfärbt sich mein Urin rot. 

Die Nebenwirkungen sind aber nicht ohne. Die Kopfhaare fallen aus, ich erhalte eine Perücke. Mit der Zeit fallen auch die anderen Haare aus. Nun erfordert es etwas länger Zeit, will ich die Augenbrauen schminken. Ich bin teilweise k.o., kann kaum essen und trinken. Ich fühle mich erschöpft. Meine Schleimhäute sind angegriffen. Der Belag auf der Zunge verweist darauf. Es ist ein Pilz. Alles ist anstrengend. Ich versuche, mir selbst Mut zu machen. Zur Entspannung kaufe ich mir eine Rosshaarbürste und massiere mir jeweils abends den Kopf. In der Physiotherapie erhalte ich Massagen. Ich tue alles Mögliche, um mich zu entspannen. Dazwischen kontrolliert meine Frauenärztin regelmässig meine Blutwerte. So weit, so gut.

Manche Patientinnen und Patienten bezeichnen das Krebsmedikament als Campari Orange – weil die Flüssigkeit knallig orangefarben ist.

In den ersten Chemo-Wochen rufe ich fast täglich meine Familie und meine nächsten Freundinnen und Freunde an. Sie wollen wissen, was bei mir aktuell läuft und wie es mir geht. Das füllt meine Tage. Nach jedem Telefonat bin ich erschöpft und muss mich ausruhen. Bald weiss ich nicht mehr, wem ich was erzählt habe. Ich beschliesse, daraus eine Holschuld zu machen. Ich bringe mir bei, wie ich Videos drehen und schneiden kann. Danach beginne ich, erste Filme von mir zu drehen, in denen ich mein Befinden kurz zusammenfasse. Die Videos publiziere ich auf Social Media wie LinkedIn und Facebook. Wer sich interessiert, kann mich abonnieren. Das macht die Sache einfacher.

Nun ist Pause. In den kommenden paar Wochen kann ich mich von den Strapazen der Chemo erholen. Danach steht die Brustoperation an. Auf einen Brustaufbau verzichte ich. Ich war nie sonderlich eitel, und auf meine Brüste in keiner Weise stolz. Zumal ich schon seit jeher kleine Brüste hatte, und das Wenige hing überdies zu Boden. 

Nach der Operation erfahre ich, dass man in drei der dreizehn herausoperierten Lymphknoten Krebsgewebe entdeckt hat. Eine weitere Chemo steht an. «Nein! Das kann doch nicht wahr sein!» Tränen schiessen mir in die Augen. Diese Botschaft haut mich um. Ich will das nicht hören. In ein paar Tagen will ich endlich meine neue Arbeitsstelle antreten, da passt der Befund nicht hinein. Ich will mein altes Leben zurück.

Die Chemo führt zu weiteren Nebenwirkungen. Diese sind sehr unangenehm, vor allem das Hand-Fusssyndrom. Dabei handelt es sich um Hautveränderungen an den Handflächen und Fusssohlen, die mit schmerzhaften Schwellungen einhergehen. Die betroffenen Stellen kribbeln, da und dort stellen sich Taubheitsgefühle ein. Die Haut ist stark gerötet und schuppt stellenweise. Vor allem meine Fusssohlen werden dünnhäutig, fast gläsern und reissen manchmal auf. In der vorigen Chemo waren einzig meine Mundschleimhäute angegriffen. Eine neue Erfahrung kommt dazu.

Die Brust ist amputiert, die Chemo vorbei, nun ist die Zeit für die Bestrahlung gekommen. Nach drei Wochen Behandlungspause fühle ich mich endlich wieder fitter. Ohne Chemo sogar pudelwohl. Endlich kann ich mich richtig erholen. Ich schlafe viel, bald ist die Müdigkeit wie weggezaubert. Ich bin voller Energie und fühle mich zu neuen Schandtaten bereit. Endlich wieder arbeiten! Darauf freue ich mich sehr.

Der Job in Zug gefällt mir gut. Ich hatte kurz vor dem Eingriff die Stelle gewechselt. Noch in der Probezeit beginnen mich jedoch grauenhafte Symptome zu plagen. Eines Morgens ist mir wieder speiübel. Ich habe keinen Mumm, aufzustehen. Normalerweise muss ich mich um fünf Uhr morgens zwingen, im Bett zu bleiben und nicht sofort zum Tageswerk zu schreiten. Doch stattdessen torkle ich wie eine Betrunkene zur Arbeit. Als mich immerwährend Durchfallattacken schütteln, ist es gewiss: Ich muss mir Hilfe holen. Ich verlasse notfallmässig meinen Arbeitsplatz und fahre ins Kantonsspital nach Olten, wo ich zu der Zeit lebe. Im Herbst 2022 entdecken die Ärzte Metastasen in meinem Hirn. Ich werde nie mehr an meine Stelle zurückkehren können.


Aktuell tourt die Basler Psychologin durch die Schweiz und liest in diversen Städten aus ihrer Autobiografie. Eine Übersicht ihrer Auftritte finden Sie unter psyche-staerken.ch/autobiografie

Mehr über Ihr Buch «Volle Pulle leben – Lebe Deins, jetzt», in dem Michèle Bowley über Ihr Leben und Sterben schreibt, finden Sie hier.

Beitrag vom 20.03.2023

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