Cannabis ist mehr als eine Freizeitdroge. Die Pflanze gilt auch als potentes Heilmittel. © mauritius images

Drogen auf Rezept

Cannabis im Altersheim? LSD vom Therapeuten? Das klingt wie Zukunftsmusik, ist aber bereits Realität. Viele Substanzen, die das Betäubungsmittelgesetz verbietet, werden gerade neu erforscht – mit überraschenden Resultaten. Manches, was heute noch verboten ist, könnte es bald beim Arzt als Medikament geben.

Text: Claudia Senn

Viele Bewohnerinnen und Bewohner im Pflegeheim bekommen täglich Neurolep­tika. Diese schweren Beruhi­gungsmittel sind eigentlich für Schizophrene gedacht. Sie machen müde und apathisch und sorgen dafür, dass Menschen, die an Demenz erkrankt sind, nachts nicht durch die Gänge geistern und das Personal auf Trab halten.

Auch im Alterszentrum Ins, im Berner See­land, gehörten Neuroleptika zur Alltagsroutine. Bis die stellvertretende Pflegeleiterin Larissa Blatter eine zündende Idee hatte: Könnte man nicht einen Teil der Medikamente durch Can­nabis ersetzen? Die Hanfpflanze, so wusste die Pflegefachfrau, ist nicht nur eine beliebte Freizeitdroge von Jugendlichen und vielen Er­wachsenen, sondern auch ein potentes Heil­mittel. Ein Genfer Altersheim hatte damit be­reits vielversprechende Erfahrungen gemacht.

Der Heimleiter Urs Schwarz liess sich über­zeugen, die Trägerschaft ebenso. Das Einver­ständnis der Angehörigen und Hausärzte ein­zuholen, gestaltete sich schon schwieriger. Manche reagierten aufgeschlossen, andere voller Ablehnung, weil sie glaubten, man wolle ihre Familienmitglieder unter Drogen setzen. Eine Stiftung unterstützte das Projekt mit einem namhaften Beitrag, weil die teuren Can­nabis­-Tropfen nicht von der Krankenkasse bezahlt werden. Die begleitenden Ärzte leiste­ten teilweise Gratisarbeit. Als die Finanzierung schliesslich gesichert war, konnte es losgehen. Ganz vorsichtig tasteten sich Ärzteschaft und Pflegepersonal bei jeder Patientin und jedem Patienten an die für sie optimale Dosierung heran, mischten den beruhigend wirkenden Cannabis­-Bestandteil CBD mit dem berau­schenden THC, um die Nebenwirkungen zu minimieren. «Wir wollten ja nicht, dass die Leute high werden», sagt Urs Schwarz.

«Die Leute waren kontaktfreudiger und nahmen die Welt wieder wahr.»

Larissa Blatter, stellvertretende Pflegeleiterin

Der Erfolg war durchschlagend. Bei den meisten Patientinnen konnten Neuroleptika und schmerzlindernde Opiate stark reduziert oder sogar ganz abgesetzt werden, ohne dass mehr Beschwerden auftraten. Dadurch hatten sie auch weniger mit den Nebenwirkungen dieser Medikamente wie Apathie, Sturzgefahr oder Verstopfung zu kämpfen. «Die Leute waren kontaktfreudiger, kamen mehr aus sich heraus, nahmen die Welt wieder wahr», erzählt Larissa Blatter. Demenzkranke, die sich zuvor gar nicht mehr geäussert hatten, bildeten plötzlich wieder ganze Sätze und formulierten Wünsche oder Kritik. Sie waren entspannter, schliefen besser durch, assen mit grösserem Appetit. «Manche Angehörigen berichteten sogar, dass ihr Fami­lienmitglied plötzlich viel aufmerksamer sei, sich öffne, wieder ins Leben zurückkehre», sagt Larissa Blatter. Cannabis sei kein Wundermittel und wirke auch nicht bei jedem, ergänzt Urs Schwarz, der Heimleiter, «doch jene, die davon profitieren konnten, haben eine massive Verbes­serung ihrer Lebensqualität erfahren.» Das war mehr, als Blatter und Schwarz zu hoffen gewagt hatten.

Verstecktes Potenzial verbotener Substanzen

Cannabis ist nicht die einzige Droge, deren Heil­potenzial von der Medizin gerade wiederent­deckt wird. Auch Psychedelika wie LSD, Psilo­cybin-Pilze oder MDMA (Ecstasy) können mehr, als man den verbotenen Substanzen bis­her zutraute. Bereits Ende der 1940er­ und in den 1950er­Jahren wurden sie erfolgreich in der Schweizer Psychiatrie eingesetzt. Man thera­pierte damit Alkoholikerinnen oder versuchte unheilbar kranken Krebspatienten die Angst vor dem Sterben zu nehmen. Doch nachdem die Hippies LSD in den 60ern als Spassdroge und Mittel zur Selbsterkenntnis entdeckt hatten, ver­bot die amerikanische Regierung die Substanz. Der Rest der Welt folgte der amerikanischen Gesetzgebung. Die Forschung zum Thema, die so vielversprechend begonnen hatte, kam fast gänzlich zum Erliegen.

Erst in den letzten Jahren begann man, die stigmatisierten Substanzen neu zu untersuchen. Schweizer Wissenschaftlerinnen und Wissen­schaftler nehmen dabei eine Pionierrolle ein. An vielen Universitätskliniken laufen derzeit Studien über den Einsatz von Psychedelika als Medika­ment. Gegen Posttraumatische Belastungsstö­rung, Depressionen, Suchterkrankungen, Angst-­ und Zwangsstörungen, ja sogar gegen Cluster Headache, eine besonders entsetzliche Art von Kopfschmerz­-Attacken, die so schlimm sind, dass sie manche Patienten in den Suizid treiben.

Konzeptbild für psychedelische Drogen. Illustration mit bunten Tabletten und sich drehendem Hintergrund.
Psychedelika wie LSD können bei vielen psychischen Krankheiten helfen. © Keystone/ SPL/ Stephen Wood

Der Zürcher Arzt Sivan Schipper, Internist und Leiter der Palliativ Care am Spital Uster, beschäftigt sich mit der Wirkung der Substanz auf Menschen in einer Palliativsituation. In dieser letzten Phase des Lebens seien viele Men­schen gefangen in Angst und Traurigkeit, sagt er. Es gehe nur noch um ihre Krankheit, das Leiden, den bevorstehenden Abschied. «Sol­chen Patientinnen und Patienten kann LSD helfen, ihre Krise zu überwinden und wieder das Hier und Jetzt wertzuschätzen, die Familie, vieles, was sie vielleicht schon verloren glaub­ten.» Schipper hat inzwischen schon mehrfach erlebt, wie seine Patientinnen nach der Behand­lung aufblühten. Nun will er die Wirkung auch wissenschaftlich überprüfen. Demnächst startet er mit einer Studie, an der neben dem Spital Uster auch die Unikliniken in Zürich, Basel und Genf beteiligt sind. Ziel ist es zu untersuchen, ob LSD bei Palliativpatienten die Lebensquali­tät verbessern kann.

Nicht die Substanz allein sei es, die eine solche Veränderung bewirke, sagt Schipper, «LSD ist bloss der Türöffner, der den Prozess in Gang bringt.» Mindestens ebenso wichtig seien die begleitenden Gespräche, die dem Patienten helfen, das Erlebte einzuordnen. Anders als gängige Psychopharmaka, die unangenehme Symptome dämpfen, sei LSD eine Erfahrungs­medizin. Während die Substanz wirkt, kann man sich und seine Welt überraschend anders wahrnehmen, vielleicht sogar eine tiefe, mysti­sche Verbundenheit mit der Natur oder dem Kosmos spüren. «Man lässt sich also auf eine Art Abenteuer ein, das einem hilft, neue Pers­pektiven zu entwickeln.» (Lesen Sie dazu auch das Interview mit Anuschka Roshani.) Um künftig noch besser auf seine Patientin­ nen und Patienten eingehen zu können, macht Sivan Schipper derzeit eine Weiterbildung in Psycholyse, so heisst die Psy­chotherapie mit LSD und anderen psychoaktiven Substanzen.

Einer seiner Ausbilder ist der 84­jährige Psychiater Juraj Styk, der schon in den 1960er­Jahren mit LSD arbeitete. Wie stark das Interesse an der Psy­cholyse gewachsen ist, kann Styk an der Zahl seiner Auszubildenden ablesen. Waren es viele Jahre lang bloss eine Handvoll, die sich für die ungewöhnliche Therapie interessierten, so sind es inzwischen zehnmal mehr, als Styk und seine Kollegen von der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Psycholytische Therapie überhaupt in die Ausbildung aufnehmen können.

MDMA werde von der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA ver­mutlich noch dieses Jahr als Medikament gegen Ängste und Traumata zugelassen, so berichtet Styk. Auch Psilocybin, der Wirkstoff aus den Zauber­pilzen, könnte bald folgen. Übernehmen die Schweizer Behörden die Ent­scheidung der FDA, so könnten Ärztinnen und Ärzte die Substanzen relativ unkompliziert verschreiben. Heute sind sie nur mit einer Sonderbewilligung des Bundesamtes für Gesundheit und unter strengster Kontrolle erlaubt.

«Ohne therapeutische Vor- und Nachbereitung können die Substanzen mehr Schaden als Nutzen anrichten»

Sivan Schipper, Leiter Palliativ Care, Spital Uster

«Bei älteren Menschen, die mit ihrer Sterblichkeit konfrontiert sind, könnte mit LSD oder Psilocybin ein Durchbruch erzielt werden», sagt Styk. Er schildert den Fall eines krebskranken Mannes, der mit etlichen Familien­mitgliedern zerstritten war. Juraj Styk und seine Frau Sonja, auch sie ist Psychiaterin, gaben dem Mann LSD und arbeiteten mit ihm die unerle­digten Konflikte der Vergangenheit auf. Der Pa­tient habe in seiner Sitzung einen «tiefen Frie­den» erlebt, konnte sich mit seinen Angehörigen versöhnen und wenige Wochen darauf friedlich sterben.

LSD und Psilocybin belasten in niedrigen Dosen den Kreislauf wenig, deshalb könne man sie auch bei älteren Menschen ohne Risiko einsetzen, sagt Styk. Anders jedoch das angst­lösende MDMA, das den Blutdruck erhöht sowie Herz und Nieren strapaziert. «Ohne eine sorgfältige kardiologische und internistische Abklärung würde ich die Substanz älteren Men­schen deshalb nicht verschreiben.»

Vorbehalte erschweren die Therapie

Was die Behandlung von Seniorinnen und Seni­oren mit Psychedelika schwierig mache, seien vor allem ihre Vorbehalte gegenüber den dem Betäubungsmittelgesetz unterstehenden Subs­tanzen. Die ältere Generation habe LSD und Co. fest als gefährliche Drogen abgespeichert, mit denen man auf keinen Fall etwas zu tun haben will. «Manche palliativmedizinisch betreuten Patientinnen und Patienten im Spital Uster wei­gern sich sogar, gegen ihre starken Schmerzen Morphium zu nehmen», sagt auch Sivan Schip­per. Selbst in ihren letzten Lebenstagen hätten sie noch Angst davor, süchtig zu werden. Die Voraussetzung für eine Behandlung mit Psyche­delika sei jedoch die Bereitschaft, sich auf die Erfahrung und die begleitenden Gespräche ein­zulassen. «Überreden würde ich zu dieser The­rapie deshalb sicher niemanden», so Schipper.

Seine Vision ist es, dass LSD dereinst auf der Palliativstation oder im Hospiz als Standard­-Medikament erhältlich ist, «für Leute, die sich wünschen, am Lebensende eine solche Er­fahrung zu machen.» Auch einen Einsatz im Altersheim könnte er sich vorstellen, «bei Menschen, die noch klar im Kopf sind, aber eine gewisse Lebensmüdigkeit in sich spüren und sich und ihr Gehirn mit einem therapeutischen LSD-Trip ‹revitalisieren› möchten». In Basel sei sogar ge­rade eine Studie in Vorbereitung, die klären will, ob LSD in winzigen Dosie­rungen nicht einer Demenz entgegenwirken könne. Schliesslich stimuliert die Substanz erwiesenermassen die Entstehung neuer Nervenverbindungen.

Drogen mit Heilpotenzial

Cannabis: Die Hanfpflanze enthält u.a. CBD (Cannabidiol) und THC (Tetrahydrocannabi­nol). Anders als das berau­schende THC wirkt CBD eher beruhigend und entspannend. Beide Substanzen haben Poten­zial als Medikament, sind je­doch erst wenig erforscht. CBD ist schon länger legal erhältlich. Seit August 2022 darf nun auch THC zu medizinischen Zwecken verschrieben werden.

LSD: Ruft schon in kleinsten Dosierungen ab 100 Mikro­gramm (millionstel Gramm) starke Bewusstseinsverände­rungen hervor. Nicht giftig, kein Abhängigkeitspotenzial. Kann aber wie alle Halluzinogene in seltenen Fällen psychische Störungen wie etwa Psychosen auslösen, wenn eine familiäre Vorbelastung besteht.

Psilocybin­-Pilze: Auch «Magic Mushrooms» genannt. Bewirken einen psychedelischen Rausch mit visuellen Halluzina­tionen und mystischen Natur­erlebnissen, ähnlich wie LSD, aber sanfter und von kürzerer Dauer. Nicht giftig, kein Abhän­gigkeitspotenzial.

MDMA: Auch bekannt als Partydroge Ecstasy. Wirkt euphorisierend, «herzöffnend» und angstlösend, ruft eine starke Verbundenheit mit ande­ren Menschen hervor. Ältere Menschen brauchen vor dem Konsum wegen der belastenden Wirkung aufs Herz­-Kreislauf­-System eine sorgfältige medizi­nische Abklärung.

Psychedelika sind kein Wundermittel

Eine ganze Industrie steht in den Startlöchern, um Psychedelika herzustel­len, sobald es die Gesetzeslage erlaubt. «Es gibt bereits mehr als 500 börsen­kotierte Unternehmen, die in diesem Bereich tätig sind», so Sivan Schipper. Die Kehrseite des Hypes sieht er in der Gefahr, dass unbedachte Ärzte die ge­botene Sorgfalt vermissen lassen könnten. Die Substanzen seien für die Me­dizin eine gewaltige Chance, «doch ohne therapeutische Vor-­ und Nachberei­tung können sie mehr Schaden als Nutzen anrichten.» Auch überzogene Er­wartungen hält er für gefährlich: «Psychedelika können zwar positive Entwicklungen anstossen, aber sie sind sicher kein Wundermittel.»

Im Alterszentrum Ins zeigte das Cannabis indes eine Nebenwirkung, mit der niemand gerechnet hatte. Die Bewohnerinnen und Bewohner machten so grosse Fortschritte, dass sie einer niedrigeren Pflegestufe zugeteilt wurden. Das Heim bekam für ihre Betreuung deshalb weniger Geld und musste sogar Stellen abbauen. Es ist, wenn man so will, Opfer seines eigenen Erfolgs ge­worden. Profitiert haben dafür die Patientinnen und Patienten.

Möchten Sie wissen, wie sich die Wirkung von LSD anfühlt? Anuschka Roshani hat die Droge im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie ausprobiert. Hier finden Sie ein Interview mit ihr.


  • Mehr Infos
    Michael Pollan: «Verändere dein Bewusstsein – Die neuesten Erkenntnisse der klinischen Erfor­schung von Psychedelika zu Angst, Depression, Sucht und Transzendenz», Goldmann­ Verlag, ca. 24 CHF. Von Michael Pollan gibt es auf Netflix ausser­dem die Fernsehserie «How to Change Your Mind», in der auch Schweizer Psychedelika­-Forscher zu Wort kommen.
Beitrag vom 06.02.2023

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