Digitaler Wildwuchs
Die Moderne klopft laut an die Gartentüren der Schweiz. Hiesige Naturfreunde nutzen schon längst ausgeklügelte Technologien, um ihre Paradiese zu pflegen. Viele tauschen sich darüber auf Social Media aus. Gartenpöstler Roland Grüter ist einer davon.
Viele sehen die Natur als Fluchtort vor dem modernen Leben, als Ruhepol im Weltgetriebe. Einmal zünftig auf der grünen Wiese durchatmen, das Hier und Jetzt geniessen und neue Kräfte sammeln, bevor wir in die Hektik des Alltags zurückkehren. Sogar digitale Dauernutzer legen für solche Pausen willig ihre Handys zur Seite und nehmen Abstand von den virtuellen Welten. Manche schreiben der Natur sogar Heilkräfte gegen die digitale Sucht zu – oder üben darin zumindest Enthaltsamkeit, so genanntes Digital Detox.
Doch Natur und digitales Leben liegen näher als gedacht. Denn selbst Wald und Wiesen werden von Bits und Bytes erfasst. Schweizweit sind Lehrpfade mit QR-Codes ausstaffiert, diese liefern mit einem Klick Informationen zu Landschaften oder bestimmten Tier- und Pflanzenarten via Handy oder Tablet. Sogar die Gartenpflege und damit auch der Hobbygarten ist in der Neuzeit angekommen. Denken wir nur an die vielen, von Apps gesteuerten Rasenroboter, die durch die Halmenmeere der Einfamilienhäuser surren. Oder an die klugen Bewässerungssysteme, die sich aus weiter Ferne übers Handy ein- und ausschalten lassen – nur kurz online das Wetter checken, und dann zu Hause den Hahn aufdrehen.
Damit aber nicht genug: Durch die Kronen der Bäume kraxeln mittlerweile hochtechnisierte Drohnen, um deren Gesundheit zu überwachen. Andere Flugroboter überfliegen Gemüsefelder – und können aus dem Farbton der Blätter Krankheiten, ja sogar Nährstoffmängel lesen, bevor diese wirklich grobe Schäden anrichten. Drohnen lassen in der Folge auch punktgenau Schutzmittel über befallene Pflanzen rieseln – und schonen damit die umliegenden Böden.
Ohne Zweifel: Die Natur ist ein riesengrosses Spielfeld modernster Techniken, und die Daniel Düsentriebs der Welt digitalisieren den Grünen Bereich ständig weiter. Einzig eine smarte Giesskanne, die an heissen Tagen selbstgesteuert durch die Beetreihen trabt, fehlt noch in ihrem Repertoire. Auf diese Erfindung warte ich dringlich, denn sie würde mich von der wohl dümmsten Gartenpflicht befreien.
Auch Social-Media wird von Naturfreunden fleissig genutzt. Ich denke dabei an die vielen virtuellen Zirkel im Internet, zu denen Hobbygärtnerinnen und -gärtner zusammengefunden haben. Ich beispielsweise bin Mitglied der Facebook-Gruppe «Gartentipps für Hobbygärtner und Gartenfreunde». Diese umfasst aktuell 63 766 Menschen, die untereinander fleissig Erfahrungen und noch lieber Bilder ihrer Paradiese austauschen. Und dringliche Sorgen erörtern: Wie lassen sich Erdflöhe vertreiben? Weshalb bekommen Tomaten schwarze Flecken? Und welch schreckliches Viech knabbert da an meinen Palmenwedeln?
Ich beobachte den Austausch mit grossem Interesse. Denn die Diskussionen liefern mir immer wieder neue Ideen und bringen mich oft genug zurück zu altgedienten Mittelchen und Weisheiten unserer Grossmütter und -väter. Deren Tricks und Kniffs halten auf Facebook und Instagram Einzug ins digitale Zeitalter und sind so auch für künftige Generationen abrufbar. Eine gute Sache.
Zwei Generationen, ein Thema: Unkraut ist nicht gleich Unkraut
Wie denken unterschiedliche Generationen über ein Thema? Ein 67-Jähriger und eine 30-Jährige unterhalten sich darüber, wie Gartenarbeit früher aussah und was heute wieder aufkommt.
Ein weiterer Grund für meine Faszination: Der Austausch der Hobbygärtnerinnen und -gärtner beweist mir immer wieder aufs Neue, dass die Freude am Hobbygarten genügt, um einen Flecken Erde aufzuhübschen oder fette Ernten einzutragen. Das gelingt selbst dann, wenn man eine Gurke für eine Zucchetti hält. Denn in «meiner» Community, wie digitale Gruppierungen neudeutsch heissen, sind erstaunlich viele Anfängerinnen und Anfänger vertreten, und der «Schwarm» steht ihnen liebend gern zur Seite. Keine Frage bleibt unbeantwortet. Ja, grüne Tomaten müssen erst ausreifen, bevor du sie erntest – hängen lassen! Nein, Deine Dahlien sind nicht von einer tödlichen Krankheit befallen – sie schlappen bloss, weil sie durstig sind. Wasser geben!
Bleiben noch die vielen Bilder, die in der Facebook-Gruppe zu sehen sind: Denn Hobbygärtnerinnen und -gärtner agieren äusserst zeigefreudig und fotografieren willig ihre Beete. Von unten, von oben, von links, von rechts. Auch das fasziniert mich ungemein, denn auch ich schaue liebend gern über fremde Gartenzäune. Food-Porn war gestern, Green-Porn ist heute: Eine Entwicklung, die ganz in meinem Sinne ist.
Ich persönlich halte mich in diesem Punkt vornehm zurück. Weshalb sollte ich Pflanzen fotografieren, wenn sie direkt vor meinen Augen wachsen, in der analogen Welt also? Meine Freude lässt sich nicht digitalisieren – meine Meinung. In ausgewählten Momenten jedoch greife ich doch zum Handy, um Bilder zu schiessen. Denn ich bin ein ausgewiesener Schussel und vergesse allenthalben die Namen meiner Stauden, vor allem die lateinischen Bezeichnungen. Also habe ich mir vor Jahren eine kluge Bestimmungs-App für Pflanzen auf mein mobiles Telefon geladen. Nun muss ich einzig eine Gartenvertreterin ablichten und schon spielt mir die Technik in Sekundenschnelle deren Namen samt den zugehörigen Pflegetipps in die Hand. Zum Abgleich greift sie offenbar auf eine unermesslich grosse Datenmenge zurück. Die Trefferquote ist jedenfalls erstaunlich hoch.
Sag ich doch: Eine rundum, feine Sache – der digitalisierte Hobbygarten.
In der September-Ausgabe der Zeitlupe stellt «Gartenpöstler» Roland Grüter die besten Bestimmungs-Apps für Pflanzen vor.
Total digital
Bereit für eine Reise in die digitale Welt? Im Themenschwerpunkt «total digital» schauen wir nach vorn – aber auch zurück: Wir zeigen, dass Künstliche Intelligenz nicht nur jüngeren Generationen vorbehalten ist, erinnern uns an unsere ersten Erfahrungen mit der digitalen Technologie, zeigen eine innovative Community-Wohnform und kommen mit virtueller Realität hoch hinaus: zeitlupe.ch/total-digital
Weitere Beiträge unseres Gartenpöstlers Roland Grüter finden Sie hier.