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Ein zierlicher Waldbewohner

Das Reh ist ein typischer Bewohner des Übergangsbereichs von Wald und Wiesland. Hier findet es reichlich Nahrung und kann bei nahender Gefahr ins undurchdringliche Dickicht fliehen.

Text: Esther Wullschleger

Auf der waldnahen Wiese sind sie öfter anzutreffen. Vor allem am Morgen früh oder gegen Abend kommen die Rehe zum Äsen aufs Grün hinaus. Im Winterhalbjahr oder zu Frühlingsbeginn erscheinen sie oft in grösseren Ansammlungen, bis zu acht oder zehn Tiere vielleicht, die sich lose zerstreut in einer Ecke der Wiese aufhalten. Auf dem offenen Land sind sie besonders vorsichtig, prüfen immer wieder die Umgebung und stellen die grossen Ohren, wenn sich etwas Ungewöhnliches in der Umgebung zeigt. Die Rehe haben ein feines Gehör und einen ausserordentlich guten Geruchssinn, sehen aber nicht besonders gut in die Ferne. Bewegungen können sie jedoch von Weitem gut erkennen.

Ist ihnen eine Situation nicht ganz geheuer, fliehen die Rehe möglichst schnell zum Wald hin und verschwinden in einem Satz im dichten Unterholz des Waldrandes. Es ist auch Jägern bekannt, dass die flinken Rehe undurchdringliche Dickichte als Rückzugsorte schätzen und daraus kaum mehr hervorzutreiben sind. Mit gesenktem Kopf bewegen sich die schmalen Tiere auf hohen Beinen äusserst geschickt durch das Pflanzengewirr des Unterholzes, um sich vor ihren Verfolgern zu verbergen. Ihre Vorderbeine sind etwas kürzer als die Hinterbeine, was den Rehen eine Körpergestalt verleiht, die von Jägern als «Schlüpfertyp» bezeichnet wird.

Nachwuchs im Verborgenen

Meist im Mai oder Juni, wenn warmes und trockenes Wetter vorherrscht, sondern sich die tragenden Ricken von ihren Artgenossen ab, um in einiger Nähe eines Gestrüpps zu gebären. Manchmal ist es eines, doch recht häufig sind es zwei Geschwisterchen, selten gar Drillinge und noch viel seltener Vierlinge, die zur Welt kommen. Die Rehe sind erstaunlich fruchtbar, jedoch ist auch die Sterblichkeit ihrer Jungen recht hoch.

Junges Reh liegt gut getarnt zusammengerollt auf dem Waldboden.
Rehkitze halten sich möglichst unsichtbar, auch wenn ein Gefahrt droht. © shutterstock

Die noch ungelenken Neugeborenen werden von der Mutter gründlich sauber geleckt und tragen keinen Eigengeruch. Schon bald wird jedes für sich eine geeignete Nische in der Nähe der Geburtsstelle aufsuchen, wo es sich verbergen kann. Im hohen Gras der Wiese oder im Gebüsch des Waldrandes ducken sich die weiss gefleckten Kitze während der ersten zweieinhalb Lebenswochen so reglos am Boden, dass sie von Beutegreifern höchstens zufällig aufgestöbert werden. Sie fliehen nicht, wenn etwa der umherstreunende Fuchs naht, sondern halten sich möglichst unsichtbar. Doch sollte die Ricke den Kleinräuber in der Nähe ihrer Kitze entdecken, wird sie ihn mit äusserster Aggressivität zu vertreiben suchen.

Einsatz von Wärmebildkameras

Leider fliehen die kleinen Kitze selbst dann nicht, wenn sich ein Mähdrescher nähert. Auch da vertrauen sie auf ihre Tarnung, und menschliche Helfer haben Mühe, alle Kitze vor der Mahd in der Wiese zu entdecken. Obwohl viele gerettet werden, fallen immer noch schätzungsweise Tausende von Rehkitzen jedes Jahr in der Schweiz Mähdreschern zum Opfer. Mit Wärmebildkameras ausgestattete Drohnen bieten neue Hoffnung, die Kitze vor dem brutalen Mäh-Tod zu bewahren. Solche nicht ganz günstigen Hightechgeräte haben sich als besonders verlässlich zum Aufspüren der Kitze erwiesen und kommen bereits verschiedentlich zum Einsatz. Die Spezialkameras können kleine Tiere in der Wiese anhand ihrer Körperwärme erkennen und auf dem Wärmebild abbilden, sodass ihre Position feststellbar wird.

Der Drang, sich zu verstecken, lässt schliesslich nach, und die lebhaften Kitze folgen der Mutter. Nun hat der Fuchs gegenüber den flinken Jungtieren das Nachsehen, selbst wenn sie einmal auf sich allein gestellt äsen. Bald sind auch die weissen Flecken der Jungen weitgehend verblasst, denn die Tarnung am Boden ist nicht mehr wichtig. Die heranwachsenden Jungrehe bleiben über den Winter bei der Ricke im kleinen Verband. Sie werden erst im folgenden Frühling vertrieben, wenn die Rehgeiss vor ihrer nächsten Niederkunft steht und sich zunehmend unverträglich zeigt. Dann müssen sich die jungen Rehe ein eigenes Streifgebiet suchen. In stark besiedelten Gebieten sind sie dabei vor besondere Schwierigkeiten gestellt, denn Autobahnen, Bahnlinien oder andere Hindernisse bilden Barrieren für die wandernden Tiere.

Es kommt selten, aber doch immer wieder vor, dass irgendwo ein weisses Reh geboren wird. Diese aussergewöhnlichen Tiere sorgen für grosse Faszination bei Tierfreunden, sollten aber selbstverständlich nicht zu stark bedrängt werden. Durch eine Genmutation, eine erbliche Veränderung also, fehlt diesen Weisslingen lediglich das Pigment fürs Fell. Einige Berühmtheit haben auch schwarze Rehe erlangt, die sich – zur Begeisterung von Jägern und Naturfotografen gleichermassen – vor allem im Tiefland des nördlichen Deutschlands öfter zeigen. ❋

Chinesisches Wasserreh © shutterstock

Reh-Verwandtschaft im Osten

Weltweit gibt es etliche verschiedene Hirsche, aber nur drei Arten von Rehen, wobei uns das Europäische Reh geläufig ist. Weiter östlich im südlichen Sibirien, in Teilen der Mongolei und Chinas sowie in Korea lebt das sehr ähnliche, nah verwandte Sibirische Reh. Es ist etwas grösser und besiedelt vornehmlich kalte und trockene Steppenlebensräume. In die fernere Verwandtschaft zählt zudem das Chinesische Wasserreh. Bei diesem aussergewöhnlichen Tier trägt der Bock anstelle eines Geweihes zwei zu Hauern verlängerte Eckzähne, die er in Rivalenkämpfen einsetzt. Das Wasserreh lebt in sumpfigen Gebieten und ist heute gefährdet.

Beitrag vom 05.10.2023

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