«Das Kleingedruckte» Von Gina Bucher

«Ich habe das verstanden», krächzt Elsbeth ungeduldig. Wieder einmal hat sie ihre Stimme verloren. Das macht sie noch älter, als sie sowieso schon ist. Befürchtet Elsbeth. Bestreitet Julia, ihre Grossnichte, die dann immer besonders sanft lächelt.

Vor ihnen liegt das Papier, das Julia ihr schon vor Monaten vorbeigebracht hatte. 100 000 Fr. steht oben – und zweimal derselbe Nachname unten. Begünstigt für: Julia Sutter. Lautend auf: Elsbeth Sutter. In der Mitte eine absurd hohe Prämie, die Frau Sutter auf PC 31-137597-7 zum Monatsende einzahlen möge. Elsbeth Sutter hat sich das gut überlegt. Deswegen lag die Police ja auch so lange auf ihrem Sekretär. Immer wieder studierte sie sorgfältig das Kleingedruckte der Lebensversicherungspolice, die jetzt Todesfallversicherung heisst.

Seit Monaten besucht Julia ihre Grosstante plötzlich regelmässig. Sie kauft für sie ein, ruft an, schreibt Postkarten. Man kann sicher sagen: Sie bemüht sich um sie. Um sie, Elsbeth, Jahrgang 1938, geborene Meier, verwitwete Sutter. Glücklich geboren, unglücklich verheiratet, im Alter wieder wach geworden. Man kann sicher auch sagen: Sie bemüht sich besonders um sie, seit diese Police auf die Schreibunterlage ihres Sekretärs geraten ist. Davor wusste Elsbeth Sutter gar nicht, dass aus der kleinen süssen Julia, die sie einmal als Baby in den Armen gehalten hatte und danach jahrelang nur noch auf Fotos gesehen hatte, eine junge, energische Frau geworden ist. Eine junge Frau, die in einer ganz anderen Welt gross geworden ist als sie. Die ihr jetzt davon erzählt, wie dies und das läuft in der modernen Welt. 

Wobei Elsbeth Sutter bald feststellte, dass sie, die Alte, gar nicht so schlecht informiert ist. Dass man über ARTE einen recht guten Einblick in diese neue Welt bekommt. Sie weiss, dass ihre Grossnichte von Dingen träumt, die für sie selbst noch nicht einmal in ihrer Vorstellung existierten. Und sie weiss, dass das Arbeitsleben kompliziert geworden ist – vom Liebesleben ganz zu schweigen. Julia, das spürt Elsbeth Sutter, wird ihre Grosstante aber genau deshalb nicht enttäuschen – nicht enttäuschen können.

Schliesslich war das alles ja Julias Idee gewesen. Also steigt sie schnell darauf ein, als ihr die Grossnichte rät, auf Elsbeths Namen eine Versicherung abzuschliessen und sie, Julia, zu begünstigen. Elsbeth erbte von ihrem Paul, der sie so bitter enttäuscht hatte, viel Geld. Lieber hätte sie allerdings eine grosse Familie mit vielen Kindern gehabt statt Geld. Und sie weiss natürlich, dass sie wohl kaum älter als hundert Jahre wird. Es ist – und das ist wichtig zu wissen – aber auch nicht so, dass die Grosstante ihrer Grossnichte ihre Märchen von der unbeschwerten Zukunft nicht gönnen würde. Sie findet nur einfach, dass Julia eine Lektion guttun könnte. 

Nachdem Elsbeth erfahren hat, dass auch ihr Bruder Herbert plötzlich auffallend oft Besuch von Julia bekommt. Auch ihm half sie bei diesem und jenem, vor allem im Garten. Auch er hat eine Police bekommen. Von einer anderen Versicherung und mit anderem Kleingedrucktem. Im Gegensatz zu ihr hat Herbert die Police postwendend verrissen. Elsbeth aber rief am nächsten Tag bei der Versicherung an, weil sie sich sehr für das Kleingedruckte interessiert: Ob sie die Vollmacht an Bedingungen knüpfen könne? Sie wolle nämlich gern ein ordentliches Begräbnis mit einer stattlichen Party für ihre Freunde, die wenigen, die noch verblieben seien, erklärt sie. Der Versicherungsangestellte rät ihr davon ab. Diese Klausel sei dafür gedacht, dass man seine Hinterbliebenen begünstigen könne.  

«Ja, aber …», beginnt sie. Und er hakt nach, ob sie etwa einen jüngeren Lebenspartner habe? «Nein », winkt Elsbeth Sutter ab. Worauf dem Versicherungsberater noch mehr Fragen einfallen, die am Ende immer darin gipfeln: Ob sie sie überhaupt noch abschliessen wolle, diese Versicherung, mit 78 Jahren? «Tatsächlich ja», beharrt die Dame geheimnisvoll. Am Ende murmelt der Versicherungsangestellte bloss: «Ja, also verhindern können wir das nicht.»  

Zufrieden nickt Elsbeth Sutter am anderen Ende der Telefonleitung und setzt sich ans Budget ihres eigenen Kleingedruckten. Als Erstes stellt sie sich eine Kutsche vor, die ihre sechs übrig gebliebenen Freunde in der Umgebung abholt und zum Friedhof bringt. Dort braucht es viel Publikum, Junge und Betagtere, fröhlich lachende Kinder, die die traurigen Alten am Weinen hindern. Es braucht einen Pfarrer, der eine würdige Rede hält und einen Ghostwriter, der ihr Leben in schöne Worte fasst und es charmant mit den Leben ihrer Freunde verflicht, damit die Trauergemeinde mehr schmunzelt als schluchzt. 

Es braucht viele Blumen und Kerzen und es braucht Musik – eigentlich ein ganzes Orchester. Damit ihre alten Freunde auch wirklich etwas geboten bekommen. Es braucht einen schlichten, aber edlen Sarg und vor allem vier starke junge Männer, die den Sarg zu tragen vermögen. Es braucht ein Essen in der Wirtschaft nebenan, möglichst üppig, im grossen «Sääli», nicht im kleinen. Am liebsten noch mit Tanz. 

Diesen Teil malt sich Elsbeth Sutter besonders gerne aus: Wie ihre alten, klapprigen Freunde endlich wieder einmal das Tanzbein schwingen. Man muss wissen: Im Alter von rund achtzig Jahren gibt es nicht mehr so viele Gelegenheiten für ein Tänzchen. Ständig ist der eine krank, die andere gerade in Trauer oder in der Physiotherapie.

Elsbeth Sutter überschlägt nochmals das Budget:

  • Todesanzeige (NZZ und Zürcher Unterl nder): 2855 Fr.
  • Leidzirkulare (Gestaltung, Text, Versand): 750 Fr.
  • Kutschenfahrt für Elsa, Max und Oskar, Gerry, Albertina,
  • Romy (hin und zurück): 2000 Fr.
  • Publikum (Casting-Agentur: 3000 Fr., 140 Statisten: je pauschal 300 Fr.): 45 000 Fr.
  • Pfarrer: kostenlos!
  • Ghostwriting für Rede plus Redner oder Rednerin: 1400 Fr.
  • Organistin: 500 Fr.
  • weitere Musiker: 3000 Fr.
  • Blumenschmuck für die Kirche: 500 Fr.
  • Sarg (ohne Griffe, Edelholz): 3600 Fr.
  • Bestattungskleid: 80 Fr.
  • Sargbestattung: 1500 Fr.
  • Grabstättengebühr: 1500 Fr.
  • Grabunterhalt, pauschal: 8000 Fr.
  • Grabstein (Andeer-Granit): 4450 Fr.
  • Gemeindegebühr: 75 Fr.
  • Leichenmahl (inkl. der Statisten und Getränke): 18 600 Fr.
  • Saalmiete (6 Std.): 5000 Fr.
  • Tanzkapelle (mit Technik): 5000 Fr.

Und stellt fest: günstig wird das nicht. Es ist überhaupt gar nicht schwierig, ein Begräbnis für 100 000 Franken zu organisieren. Sie denkt nochmals an das Leichenmahl und daran, wie nachher alle ausgelassen tanzen werden, besonders Romy. Vielleicht braucht es gar noch einen extra Putzdienst danach? Was, wenn ihre Freunde nicht satt werden? Und all die Statisten? Schweren Herzens kürzt sie zwanzig Statisten weg, ändert hier und dort noch eine Zahl, setzt zur Sicherheit noch eine Reserve «für Unvorhergesehenes» ein und kommt schliesslich auf exakt 98 720 Franken. Zufrieden legt Elsa das Budget zur Police in einen Briefumschlag und macht sich auf zu ihrem Notar.

Als sie vom Notar zurückkommt, steht Julia bereits vor ihrer Haustür. Sie äussert sich zuerst besorgt über ihre heisere Stimme und presst ihr sogleich einen Orangensaft. «Wegen der Vitamine», meint Julia und widerspricht ihrer Grosstante, die meint, diese krächzende Stimme lasse sie alt wirken. Sie lächelt sanft. Gewissenhaft geht sie mit ihr nochmals die Details der Police durch und fragt, ob sie, Elsbeth Sutter, auch wirklich sie, Julia Sutter, begünstigen wolle? Ob sie auch alles wirklich verstanden habe? Elsbeth Sutter nickt und unterschreibt.


Gina Bucher wurde 1978 geboren. Sie lebt und arbeitet in Zürich. Für das Buch «Ich trug das grüne Kleid, der Rest war Schicksal – Geschichten von der Liebe» (Piper 2016) sprach sie mit älteren Menschen über die Liebe. Als Autorin ist sie Mitglied des AdS (Autorinnen und Autoren der Schweiz) und als Redakteurin Mitglied von von «essais agités. Edition zu Fragen der Zeit».. www.albertina.ch


«Voll im Wind»

Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps

Grossvater riecht nach Schnaps und Grossmutter lacht nicht mehr. Was ist passiert? «Älterwerden ist kein Spaziergang», erzählen Betroffene – und die Jüngeren nehmen es irritiert zur Kenntnis. Ruth und Fritz haben es doch schön in der Alterswohnung, und Trudi wird im Pflegeheim rund um die Uhr verwöhnt. Was ist daran so schlimm?

Es sind dies die Übergänge und Brüche; vermehrt gilt es, Abschied zu nehmen: vom Haus, vom Partner, vom Velofahren. Das Gehen verändert sich weg von der Selbstverständlichkeit hin zur Übung und Pflicht; das Autofahren ist ohnehin ein Tabu, so will‘s die Tochter. Ist es da so abwegig, den Kopf hängen zu lassen? Sich Pillen verschreiben zu lassen oder ein Glas über den Genuss hinaus zu trinken? Ja, es ist abwegig, weil es auf Abwege führt und nicht auf einen grünen Zweig.

22 Schweizer Autorinnen und Autoren erzählen Geschichten über ältere Menschen, denen der Wind derzeit mit voller Wucht entgegenbläst. Ein Anhang mit einfachen Infos und Tipps sowie weiterführenden Adressen bietet den nötigen Windschutz.

  • «Voll im Wind – Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps», Hrsg. Blaues Kreuz Schweiz,© 2020 by Blaukreuz-Verlag Bern, ISDN 978-3-85580-549-5
  • Cover-Illustration: Tom Künzli, TOMZ Cartoon & Illustration, Bern. Lektorat: Cristina Jensen, Blaukreuz-Verlag. Satz und Gestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld. Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
  • Das Projekt wird vom Nationalen Alkoholpräventionsfonds finanziell unterstützt.Für Begleitpersonen stehen unter www.blaueskreuz.info/gesundheit-im-alter weitere Fachinformationen zu den Themen des Buches bereit.

Beitrag vom 30.01.2022

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