«Das Cellokonzert» Von Regula Portillo
«Einmal Eisenbahner, immer Eisenbahner», erklärt mir Otto Sax stolz. Otto und seine Frau Marie sind unsere neuen Nachbarn. Das heisst, eigentlich ist es umgekehrt. Jules, mein Mann, unsere Zwillinge und ich sind Ottos und Maries neue Nachbarn. Seit wenigen Tagen hausen wir in der oberen Wohnung umringt von Umzugskartons, und während meine Familie den Nachmittag im Schwimmbad verbringt, versuche ich uns beim Rentnerpaar einen ersten Startbonus zu verschaffen. «Schon mein Vater hat bei der Bahn gearbeitet», sagt Otto und verteilt die Dessertteller mit Maries selbstgemachtem Apfelkuchen. Dann blickt er kritisch auf: «Marie, du hast die Servietten vergessen.» Zu meiner Überraschung bleibt Marie sitzen und Otto erhebt sich.
«Sie haben als Schneiderin gearbeitet?», frage ich und nehme so das Gespräch wieder auf. «Das ist richtig», antwortet Marie und streicht sich mit der Handfläche über den blauen Rock. «Bis heute nähe ich meine Kleider grösstenteils selber. Zwar sind meine Finger nicht mehr so geschickt wie früher und meine Augen – »
«Wo sind die Servietten?», dröhnt es aus der Küche. Marie blinzelt mir zu. «Alles andere hätte mich gewundert», lächelt sie und greift nach ihrem Stock. «Ich bin gleich zurück.»
Ich blicke mich im Wohnzimmer um. An den Wänden hängen Fotografien von Zügen, Bahnhöfen und Berglandschaften.
Rechts vom Fernseher, hinter einem bis zur Decke reichenden Papyrus, entdecke ich ein Klavier. Die Wohnung hat einen anderen Grundriss als unsere. «Spielt jemand von Ihnen Klavier?», frage ich, während sich Marie und Otte wieder an den Tisch setzen und Marie die Servietten verteilt. «Nein, niemand», winkt Otto ab. «Ginge es nach mir, hätten wir den alten Kasten längst entsorgt.»
«Ein Erbstück meines Bruders», schiebt Marie hinterher. «Er war Pianist.» «Erzählen Sie uns etwas von sich», unterbricht Otto seine Frau. «Was machen Sie beruflich?»
«Ich bin Buchhändlerin», antworte ich. «Mein Mann Jules arbeitet in einer Werbeagentur, und unsere Zwillinge besuchen den Kindergarten.» «Wo haben Sie vorher gewohnt?», hakt Otto nach. «Im gleichen Quartier. Doch unsere Wohnung wurde zu klein – oder das Bedürfnis der Kinder nach einem eigenen Zimmer zu gross. Wie lange leben Sie denn überhaupt schon hier?»
Die beiden blicken einander fragend an. «Das müssen inzwischen etwa siebzehn Jahre sein», überlegt Marie. «Vor fünf Jahren wurde das Haus renoviert, da haben wir zwischenzeitlich in einer Pension gewohnt», fügt Otto hinzu. «Haben Sie eigentlich auch Kinder?», frage ich. «Nein», antwortet er sofort.
Marie steht auf. «Ich hole uns Wasser.»
Nachdem sie das Wohnzimmer verlassen hat, ist es still.
«Sie mögen Berge», sage ich, weil mir nichts anderes einfällt. «Oh, ja. Meine Frau und ich waren viele Jahre beim SAC.» Dann greift er nach der Gabel und isst seinen Kuchen. «Sollten wir nicht auf Marie warten?» Da er keinen Wert darauf zu legen scheint und sich unbeirrt einen Bissen nach dem anderen in den Mund schiebt, beginne ich ebenfalls zu essen. Der Apfelkuchen schmeckt gut, nach Zimt und einem Gewürz, das ich nicht benennen kann. Doch auf einmal ist mir das Verstummen unserer Unterhaltung unangenehm – bald unerträglich. Als ich mein Stück aufgegessen habe, ist Marie immer noch nicht zurück. «Ich sollte aufbrechen», flüstere ich und räuspere mich. «Oben warten noch viele Kisten darauf, ausgepackt zu werden.» Als hätte Marie auf dieses Stichwort gehofft, betritt sie das Wohnzimmer – ohne Wasser – und sagt: «Ich begleite Sie zur Tür.»
Ich bedanke mich und verabschiede mich von Otto. Marie tritt hinter mir ins Treppenhaus. «Wir haben eine Tochter», flüstert sie. «Alexandra. Sie ist Musikerin.» Ohne meine Reaktion abzuwarten, dreht sie sich von mir weg und verschwindet in der Wohnung.
Jules hat mich davon abhalten wollen, Otto und Marie die CD vorbeizubringen, die ich gestern nach dem Konzert gekauft habe. Doch ich kann nicht anders: Die Musik ist zu ergreifend gewesen. Vielleicht hätte ich mich nicht in die Angelegenheit einmischen, nie nach der Tochter suchen und dabei auf Alexa Sax, virtuose und gefeierte Cellistin, stossen sollen. Doch dafür ist es jetzt zu spät.
Auch ein halbes Jahr nach meinem ersten Besuch bei Otto und Marie weiss ich nicht, wie es zum Kontaktabbruch zwischen Eltern und Tochter gekommen ist – aber es spielt keine Rolle. Ich will nur, dass sich Otto und Marie die CD anhören. Jules behauptet, ich würde nicht mit dem Gedanken klarkommen, dass auch unsere Kinder eines Tages ihren eigenen Weg gehen würden. Er sagt, meine Bemühungen hätten viel weniger mit Otto und Marie als mit mir selber zu tun. Tatsächlich ist mir die Vorstellung, unsere Familie könnte auseinanderbrechen, unerträglich.
Ich klingle. Es dauert einen Moment, bis Marie die Tür öffnet. «Sara, wie schön, dass du vorbeischaust. Komm herein.» Ich trete ein, Otto grüsst mich vom Sessel aus. Er schaut Skirennen.
«Stell den Fernseher leiser, Otto. Jetzt, wo wir Besuch haben», bittet Marie.
Otto schaltet den Ton aus.
«Ich habe etwas für euch. Eine CD mit Cello-Musik. Es ist eine Konzertaufnahme – von Alexa.»
Noch bevor ich zu Ende gesprochen habe, stellt Otto den Ton auf laut. Während der Sportkommentator das Ausscheiden von Wendy Holdener bedauert, schaut mich Marie mit einem Blick aus Mitleid und Bestürzung an. «Gibst du mir die CD?», sagt sie und verschwindet im Nähzimmer. Einen Moment zögere ich, dann folge ich ihr. Marie steht mitten im Raum, betrachtet das Cover. Einige Atemzüge lang beobachte ich sie, dann klopfe ich an den Türrahmen.
«Darf ich?» Sie blickt auf und nickt. «Otto und ich waren dagegen, dass Alexa Musikerin wird. Mein Bruder war von ihrem Talent überzeugt und versuchte uns immerfort zu überreden, sie aufs Konservatorium zu schicken – ganz zu Ottos Missfallen. Wir haben sie dazu gedrängt, eine kaufmännische Lehre abzuschliessen, die sie nie hatte anfangen wollen. Kaum war sie damit fertig, hatte sie sich von uns abge- wandt. Und hat begonnen, Musik zu studieren. Finanziert von meinem Bruder.»
«Deswegen der Kontaktabbruch?», frage ich.
Marie zieht die Schultern hoch. «Es war ihr Entscheid. Sie war es, die auf unsere Anrufe nicht mehr reagierte. Vor drei Jahren hatte Otto einen Herzinfarkt. Alexandra wusste davon, meldete sich aber nicht. Seither ist sie für Otto gestorben. Er schweigt, wenn ich von ihr rede, verleugnet sie anderen gegenüber.»
«Möchtest du denn überhaupt den Kontakt zu ihr wieder aufnehmen?»
Eine Weile ist es still. «Lange Zeit wollte ich das. Doch inzwischen möchte ich mich nur an unsere schönen Zeiten erinnern dürfen und mich ehrlich für sie freuen, dass sie ihren Traum leben kann.»
Marie hält mir die CD hin.
«Soll ich sie auflegen?», frage ich, bevor sich Marie im Sessel in der Zimmerecke niederlässt und mir mit Handzeichen zu verstehen gibt, hinter welcher Schranktüre ich den CD-Player finde. Kurz darauf erklingt der weiche, warme Klang des Cellos. Marie hat die Augen geschlossen. Ich gehe aus dem Zimmer und ziehe hinter mir die Tür zu.
Marie steht konzentriert vor dem Spiegel und zupft ihre Dauerwelle in die richtige Form. Dann greift sie nach einer der drei Halsketten vor ihr auf der Ablage. «Goldenes Bernstein», murmelt sie und hält sich die Kette prüfend vor den Ausschnitt, ehe sie ihre Arme mühelos hinter den Kopf hebt, um die kleinen Häkchen an den Enden miteinander zu verschliessen. Sie sieht majestätisch aus.
Otto hat sich nicht blicken lassen, die Tür zum Wohnzimmer ist zu. Zwei Plätze in der hintersten Reihe habe ich Marie versprochen, und dass wir den Saal noch während des Applauses verlassen. Der Konzertbesuch war ihre Idee gewesen; auch, dass ich sie dorthin begleiten soll. Ich blicke auf die Uhr:
«Bist du so weit?»
«Ja. Hilfst du mir mit dem Mantel?»
Ich lege ihr den Mantel um. Sie greift nach dem Stock und der Handtasche. «Gehen wir.» Wir stehen bereits im Treppenhaus, als ich Otto rufen höre. «Sara!» Einen kurzen Moment bin ich unsicher, ob ich seinem Rufen nachgehen soll. Will er mich davon abhalten, seine Frau zum Konzert auszuführen?
«Sara!»
Marie scheint nichts zu hören. «Darf ich noch kurz bei euch auf die Toilette?», frage ich, um sie nicht zu beunruhigen.
«Ich gehe schon langsam vor», sagt Marie.
Erneut betrete ich die Wohnung und stosse die Stubentüre vorsichtig auf: «Otto? Alles in Ordnung?»
«Ist die CD noch da?», fragt er, ohne mich anzuschauen. «In Maries Nähzimmer», antworte ich so ruhig wie möglich. «Aha», brummt Otto und schweigt.
Ich warte – und schweige ebenfalls. Ein weiterer Blick auf meine Uhr, Marie ist bestimmt schon unten angekommen, und oben würde Jules unseren Kindern wohl gerade eine Gutenachtgeschichte vorlesen; ich sehe die drei vor mir, aneinander gekuschelt in unserem Bett.
«Holst du sie?», fragt Otto. Schnell gehe ich ins Nähzimmer, greife nach dem CD- Player mit Alexas Musik. Dann stelle ich das Gerät neben Otto auf den Stubentisch, stecke es ein. Otto nickt mir freundlich zu. Ob er in mir manchmal seine Tochter sieht?
«Jetzt geh», sagt er dann. «Marie wartet auf dich.»
Regula Portillo (*1979) wuchs im Kanton Solothurn auf, studierte Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Freiburg in der Schweiz. Zehn Jahre verbrachte sie im Ausland: in Nicaragua, Mexiko und Deutschland. 2017 ist ihr erster Roman, «Schwirrflug», erschienen; 2020 «Andersland». Portillo lebt und arbeitet in Bern. www.regulaportillo.com
- Hier gehts zum Vorwort des Buches «Voll im Wind».
- Im Informationsteil werden Themen aus den Buchgeschichten aufgegriffen. Er enthält Tipps und viel Wissenswertes.
- Weitere Geschichten aus dem Buch «Voll im Wind» finden Sie hier.
«Voll im Wind»
Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps
Grossvater riecht nach Schnaps und Grossmutter lacht nicht mehr. Was ist passiert? «Älterwerden ist kein Spaziergang», erzählen Betroffene – und die Jüngeren nehmen es irritiert zur Kenntnis. Ruth und Fritz haben es doch schön in der Alterswohnung, und Trudi wird im Pflegeheim rund um die Uhr verwöhnt. Was ist daran so schlimm?
Es sind dies die Übergänge und Brüche; vermehrt gilt es, Abschied zu nehmen: vom Haus, vom Partner, vom Velofahren. Das Gehen verändert sich weg von der Selbstverständlichkeit hin zur Übung und Pflicht; das Autofahren ist ohnehin ein Tabu, so will‘s die Tochter. Ist es da so abwegig, den Kopf hängen zu lassen? Sich Pillen verschreiben zu lassen oder ein Glas über den Genuss hinaus zu trinken? Ja, es ist abwegig, weil es auf Abwege führt und nicht auf einen grünen Zweig.
22 Schweizer Autorinnen und Autoren erzählen Geschichten über ältere Menschen, denen der Wind derzeit mit voller Wucht entgegenbläst. Ein Anhang mit einfachen Infos und Tipps sowie weiterführenden Adressen bietet den nötigen Windschutz.
- «Voll im Wind – Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps», Hrsg. Blaues Kreuz Schweiz, © 2020 by Blaukreuz-Verlag Bern, ISDN 978-3-85580-549-5
- Cover-Illustration: Tom Künzli, TOMZ Cartoon & Illustration, Bern. Lektorat: Cristina Jensen, Blaukreuz-Verlag. Satz und Gestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld. Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
- Das Projekt wird vom Nationalen Alkoholpräventionsfonds finanziell unterstützt. Für Begleitpersonen stehen unter www.blaueskreuz.info/gesundheit-im-alter weitere Fachinformationen zu den Themen des Buches bereit.