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Unlösbarer Konflikt 8. November 2022

Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (70) bei der Zeitlupe. Seit Januar ist sie pensioniert. Jede Woche erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Israel und Palästina, für die sich keine Lösung abzeichnet. 

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Es ist auch die Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation in Israel und Palästina, die mich an dieser Reise ins «Heilige Land» so sehr interessiert hätte. Ich war gespannt auf das Westjordanland – auch Westbank, besetztes Gebiet oder von Israel offiziell Judäa und Samaria genannt. Auf der Fahrt nach Jericho und zum Toten Meer fährt der Bus an kilometerlangen Grenzzäunen und Sperrmauern entlang. Überall, nicht nur an den Checkpoints, sieht man bewaffnete junge Soldatinnen und Soldaten in Kampfuniform. Doch in Hebron liege ich krank auf der hintersten Sitzreihe im Reisebus, die zwei Tage in Bethlehem verbringe ich im Hotelzimmer und von Ostjerusalem sehe ich nur das Hadassah-Spital. Als es mir besser geht, erzählen mir meine Reisegspänli von ihren Begegnungen und Eindrücken während meiner Krankheitstage. 

Sie erzählen von der Basler Jüdin Jaël, die in einer jüdischen Siedlung ihr jüdisches Leben lebt ohne sich mit der Palästina-Frage überhaupt auseinanderzusetzen. Von Jaëls Sohn, der seinen dreijährigen Militärdienst absolviert und trotzig erklärt: «Das Land gehört uns. Wir gehören hierher.» Von der bedrückenden Atmosphäre in Hebron, wo palästinensische Häuser enteignet und israelische Fahnen gehisst werden. Von der Begegnung mit «Friends of Roots»: Jüdische und palästinensische Menschen versuchen, den Alltag zu teilen, und werden dafür von ihren eigenen Brüdern und Schwestern ausgeschlossen. 

Die Gruppe erzählt von Bruder Olivier in seinem Kloster, der für «Hoffnung trotz Perspektivlosigkeit» plädiert. Oder vom Besuch bei Jasmin, einer britisch-schweizerischen Muslima, die mit einem Palästinenser verheiratet ist. Die Familie bekam fünf Minuten, um ihr neu gebautes Haus zu räumen. Dann fuhren israelische Bulldozer auf und zerstörten es. Die Baubewilligung der lokalen Behörde würde nicht genügen. Nein, sagt Jasmin, sie habe nicht geweint. «Man muss vorwärts gehen.» Ich stelle mir vor, wie schwer es sein muss, diese Willkür zu ertragen. Menschen in den besetzten Gebieten sind ihr tagtäglich ausgeliefert.

Ich lese ein Buch, das mir den Atem nimmt: «Apeirogon». Auf sechshundert Seiten zeichnet der irische Journalist Colum McCann die Geschichte Israels und Palästinas nach. Die rund tausend kurzen Kapitel enthalten manchmal nur einen Satz: «Beendet die Besatzung». Er verschont seine Leserschaft nicht – weder mit dem Holocaust noch mit der Nakba, als nach der Gründung Israels weit über eine halbe Million palästinensische Menschen aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Mitten drin die Geschichte von Rami und Bassam, die ihre Töchter verloren haben. Smadar starb, als drei palästinensische Selbstmordattentäter in der belebten Ben-Jehuda-Strasse ihren Sprengstoffgürtel zündeten. Abir war dreizehn, als sie von einem Gummigeschoss aus einem israelischen Militärjeep getötet wurde. Ich lese bis weit nach Mitternacht. Wenn ich die Nachttischlampe lösche, wirbeln meine Gedanken durcheinander.

Ich lerne ein neues Wort kennen: Ambiguitätstoleranz. Zum ersten Mal höre ich es in Bezug auf den Konflikt Israel/Palästina, das zweite Mal lese ich es in einem Interview zum Thema kulturelle Aneignung. Ambiguitätstoleranz bedeutet: Aushalten und akzeptieren, dass es mehrdeutige Situationen und widersprüchliche Verhaltensweisen gibt. Wie in Israel und Palästina. Wie im Ukraine-Krieg. Wie in der Klimafrage. Es fällt mir schwer.


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Beitrag vom 08.11.2022

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