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Ins Neue Jahr 9. Januar 2023

Mehr als zwanzig Jahre lang arbeitete Usch Vollenwyder (71) bei der Zeitlupe. Seit Ende 2021 ist sie pensioniert. Alle zwei Wochen erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von den vielen Facetten des Lebens und den Herausforderungen für die Zukunft.

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Zu meiner Pensionierung vor einem Jahr haben mir meine Redaktionsgspänli Gutscheine für ein Konzert im KKL Luzern geschenkt. Sofort hatte ich im Programmheft nachgeschaut: Anfang Januar würde Beethovens «Neunte» aufgeführt. Mit dem Schlusschor «Ode an die Freude», so gewaltig und so schön, dass mir jedes Mal Schauer von den Schultern bis in die Zehenspitzen rieseln. Kurz vor der Aufführung kam die Absage: Symphonieorchester und -chor von Mailand wollten sich dem Corona-Risiko nicht aussetzen. Die Eintrittskarten behielten ihre Gültigkeit, und auf den Tag genau ein Jahr später fand das angesagte Konzert statt: am 4. Januar 2023.

Lange Monate hatte Beethoven an dieser Symphonie geschrieben. Am 7. Mai 1824, drei Jahre vor seinem Tod, dirigierte er in Wien die Uraufführung. Sein grossartiges Werk hörte er nur noch in seinem Kopf, der damals 54-jährige Komponist war bereits vollkommen taub. Er musste sich zum Publikum umdrehen, um den tosenden Applaus zu sehen. Ich stelle mir Beethovens persönliche Tragödie vor, während ich fasziniert dem jungen Dirigenten zuschaue. Er dirigiert auswendig und mit seinem ganzen Körper, führt das Orchester von sanftesten Tönen zu mächtigsten Harmonien, spielt mit dem Chor wie auf einem Klavier. Ich bin erfüllt von Musik, als schliesslich die Lichter angehen und das Publikum den Konzertsaal verlässt. 

Der Abend ist rundum ein Geschenk. Ich schwebe noch in musikalischen Sphären, als wir bei einem Glas Wein im Bahnhofrestaurant auf den Zug warten. Das Finale, welches die Einheit aller Menschen beschwört, dreht in meinen Gedanken eine Endlosschleife. Wozu der Mensch doch fähig ist … Automatisch vervollständigt sich in meinem Kopf der Satz: im Guten wie im Bösen. Auf der einen Seite Beethovens Komposition für die Ewigkeit, auf der anderen Seite warten Gefängnis, Folter und Tod. Hier der begnadete Dirigent, dort erbarmungslose Kriegstreiber. «Alle Menschen werden Brüder» singt der Chor. Und zur gleichen Zeit ertrinken Flüchtende im Mittelmeer.  

Das Leben und seine vielen Facetten. Alles ist möglich. Das Schönste und das Hässlichste. Wie ein Spiegel, der das Gute in sein Gegenteil verzerrt – und umgekehrt. Wie komme ich eigentlich dazu, bloss die eine Seite zu wollen? Ich kann nicht nur dem Glück die Hand hinhalten. Ich muss auch bereit sein, wenn schwierige Zeiten anstehen. Bisher hatte ich jedes Neue Jahr zuversichtlich angepackt. In letzter Zeit spüre ich oft Angst und Resignation. Mein Vertrauen steht auf wackligem Boden: Angesichts der weltweiten Probleme fällt es mir schwer, hoffnungsfroh in die Zukunft zu blicken. 

Ich lese ein Interview mit Anselm Grün. Es gebe heute viele Unheilsengel und wenige Engel, die Hoffnung vermitteln, sagt der 78-jährige Benediktinermönch. Nach dem Krieg in der Ukraine, der Energielücke und Corona gefragt, antwortet er: «Das Entscheidende ist, dass wir uns nicht als Opfer fühlen. Das nimmt uns die Kraft.» Die Krise sei Anlass, umzudenken und sich neue Fragen zu stellen. Diesem Gedanken hänge ich lange nach. Er soll mein Motto für das neue Jahr werden: Nicht resignieren, sondern trotz allem und immer wieder aufbrechen. 2023 darf kommen. 


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Beitrag vom 09.01.2023

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