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Dollar Brand im KKL 25. April 2023

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom ungeliebten Jazz und einem grossartigen Musiker. 

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Was tut man nicht alles, wenn man verliebt ist! Ich hörte in diesem Zustand sogar Jazz – Musik, zu der ich nie einen Zugang gefunden habe. Aber mein Mann mochte ihn damals wie heute, und so lief in unseren Anfangszeiten zu Beginn der Achtzigerjahre fast jeden Tag Dollar Brands «African Marketplace». Der Plattenspieler wurde dabei oft auf «repeat» gestellt: Sobald die Langspielplatte zu Ende war, bewegte sich die Nadel wieder zurück an den Anfang. Nur meinem jungen Mann zuliebe liess ich Dollar Brand klaglos über mich ergehen. Mit der Zeit mochte ich die perlenden Pianoläufe dieses südafrikanischen Musikers und Komponisten sogar. Doch irgendwann verschwand der Plattenspieler aus unserem Leben und mit ihm neben all den vielen anderen Langspielplatten auch diejenige von Dollar Brand.

Vor wenigen Tagen gab Dollar Brand – der sich seit seinem Übertritt zum Islam Abdullah Ibrahim nennt – im KKL Luzern ein Konzert. Vielleicht sein letzter Auftritt in der Schweiz, denn der legendäre Pianist ist inzwischen 88 Jahre alt. Mein Mann buchte Plätze in den vordersten Reihen, um den Künstler aus nächster Nähe zu erleben. Ich freute mich allein schon aus nostalgischen Gründen auf den Abend. Mit zehn Minuten Verspätung betrat der Musiker die Bühne, zu seiner Sicherheit wurde er begleitet: Abdullah Ibrahim ist ein gebrechlicher alter Mann geworden, mit weissen Haaren und zerfurchtem Gesicht. Umständlich setzt er sich an den Flügel, sammelt sich, wartet. Der Konzertsaal ist bis auf den letzten Platz besetzt. Im Publikum ist es mucksmäuschenstill.

Dann hebt der Pianist die Hände, lässt sie über den Tasten schweben und senkt sie langsam. Zuerst spielt er nur einzelne Töne, dann wenige Akkorde, er macht Pausen – schliesslich erklingen seine unverkennbaren Melodien und Harmonien. Die perlenden Pianoläufe von früher mögen langsamer und kürzer geworden sein, doch der Musiker spielt mit einer Innigkeit und Selbstvergessenheit, die ans Herz geht. Sein Alter wird bedeutungslos. Rund eine Viertelstunde dauert das Solo, dann ruft er sein fünfköpfiges Ensemble auf die Bühne: Schlagzeug, Bass, Zugposaune und zwei Saxophone. 

Mit minimalsten Bewegungen führt Abdullah Ibrahim seine Band. Nur wenig hebt er die Hand, um ein Solo von einem Musiker auf den nächsten zu übertragen. Kaum sichtbar deutet er auf sich, wenn er wieder einen Part übernehmen will. Der Künstler folgt keinem Programm. Er reagiert auf das Publikum und die Stimmung im Saal. Dessen Resonanz entscheide, wie sich ein Konzert entwickle, hatte er in einem Interview in der Luzerner Zeitung gesagt. Als nach zwei Stunden der letzte Ton verklingt, springt das Publikum auf. Abdullah Ibrahim brandet eine Standing Ovation entgegen. Mühsam steht er auf, lehnt sich gegen den Flügel und lächelt in den Saal. 

Auch ich applaudiere begeistert – gerührt und berührt von diesem alten Mann, der mit einer Intensität und inneren Kraft spielt, die himmelweit über seinen hinfälligen Körper hinausgeht. 


  • Haben Sie Ihrem Liebsten oder Ihrer Liebsten zuliebe früher auch Musik gehört, die Sie eigentlich gar nicht mögen? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon erzählen oder die Kolumne mit anderen teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
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Beitrag vom 25.04.2023

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