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Betupft 3. Juli 2023

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von einem gelungenen Konzert und seiner Vorgeschichte. 

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Das Konzert ist zu Ende, der letzte Akkord verklungen. Mit ausholenden Armbewegungen, leisesten Fingerzeichen und seiner ausdrucksstarken Mimik hatte uns der begnadete Dirigent durch die Höhen und Tiefen romantischer Lieder von Schubert bis Brahms geführt. Der Funke war gesprungen, von ihm in den Chor und zurück, und in den fast vollen Kirchenraum. Das Publikum klatscht begeistert. Der Dirigent, seine Solistin und die Musiker verbeugen sich, wieder und wieder. Als Neuling unter den eingeschworenen Sängerinnen und Sängern hatte auch ich mein Bestes gegeben. Die Musik klingt in mir weiter, als ich schon längst auf dem Heimweg bin. Dabei hätte ich mich beinahe um dieses Erlebnis gebracht.

Ich hatte die Lieder unter- und mich selber überschätzt. Die Worte wollten nicht mehr in meinen Kopf: «O komm, o bleib, mein Lieb, mein Weib, mein Seel und Leib …» Einige Proben verpasste ich wegen der Ferien. Bis zur Nachholprobe vier Wochen vor dem Konzert hatte ich meinen Rückstand noch nicht aufgeholt. Ich würde mich dahinter setzen müssen, um rechtzeitig parat zu sein. Ich tröstete mich damit, dass auch andere Mitsingende mit verschiedenen Passagen noch ihre liebe Mühe hatten. Da erhielt ich ein Mail vom Dirigenten – freundlich, aber bestimmt: Er habe meine Unsicherheit bemerkt. Wenn ich das Konzert singen wolle, brauche es meinerseits eine gründliche und zeitintensive Vorbereitung zu Hause. 

Was war ich betupft! Richtig betupft! Am liebsten hätte ich das Mail totgeschwiegen. Und überhaupt: Ich würde sofort wieder aus dem Chor austreten. Mit zusammengebissenen Zähnen ging ich auf eine Hunderunde, um im Kopf mein Austrittsschreiben zu formulieren. Doch je länger ich unterwegs war, umso mehr änderte sich die Richtung meiner Gedanken: Ich war ja nur so betupft, weil mein Ego angekratzt war. Der Dirigent hatte recht, ich hatte geschlampt. Ich würde das Konzert mitsingen, sonst hätte ich die vielen Probeabende für nichts und wieder nichts besucht. Zu Hause setzte ich mich an den PC und mailte zurück: «Ich bin betupft. Aber ich krieg das hin.» 

Ich übte die ganze Woche. Aus dem Internet holte ich eine Klaviertastatur auf den Bildschirm und wiederholte schwierige Tonsprünge. Regelmässig hörte ich mir die Lieder an und sang sie laut mit. Im Zug las ich statt des Krimis die Partitur. Bei der nächsten Chorprobe war ich ziemlich sattelfest – und mit mir der ganze Chor. Innerhalb einer Woche hatten wir uns mächtig gesteigert. Offensichtlich hatte nicht nur ich ein mahnendes Mail des Dirigenten bekommen. Was haben sich wohl andere dabei gedacht? Jedenfalls bin ich froh, dass ich – betupftes Ego hin oder her – über meinen Schatten gesprungen bin. 

Übrigens: Laut Duden gibt es «betupfen» nur als Verb, «betupft sein» ist ein schweizerischer Ausdruck. Auf der Internetseite blogwiese.ch, auf welcher ein Deutscher sprachliche Schweizer Eigenheiten beobachtet, lese ich: «… manche sind betupft, wenn man an ihrem Ego zupft.» Wie recht er hat!


  • Haben Sie sich auch schon betupft gefühlt? Und konnten Sie dann über Ihr Ego springen? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon erzählen oder die Kolumne mit anderen teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
  • Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»

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Beitrag vom 03.07.2023

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