Grossmutters Kaffeekanne
Kürzlich fragten wir unsere Leserinnen und Leser, welches Erinnerungsstück sie über die Jahre aufbewahrt haben – und was sie damit verbindet. In einer losen Reihe zeigen wir nun einige dieser wohl behüteten Schätze und erzählen die Geschichte, die dahinter steckt. Heute: die Kaffeekanne von Brigitte Sala.
Text und Video Jessica Prinz
«Wie diese Kaffeekanne zu meiner Grossmutter kam, das kann ich mir nicht erklären», beginnt Brigitte Sala das Gespräch. Denn die Grosseltern waren bescheidene, arme Leute, hatten nicht viel Geld. Die Wahrscheinlichkeit, unter diesen Umständen in den Besitz eines englischen Kruges zu kommen, ist eher klein. Über den weiteren Verlauf seiner weiten Reise weiss Frau Sala allerdings einiges zu erzählen. «Mehr als 60’000 Kilometer ist er gereist», erzählt sie mit strahlenden Augen am Esstisch in ihrer Wohnung in Wettswil ZH, die sie seit 25 Jahren bewohnt. Vor ihr auf dem Tisch stehen selbstgemachte argentinische Köstlichkeiten – Erinnerungen an die Heimat, den Ort, wo Brigitte Sala aufgewachsen ist und einen Grossteil ihres Lebens verbracht hat.
Die Hoffnung auf ein besseres Leben brachte die Familie 1936 dazu, nach Südamerika auszuwandern. «Meist verlässt man das eigene Land nicht, weil es Spass macht, sondern weil man muss», erklärt Brigitte Sala die Situation ihrer Grosseltern. Ein anderer Kontinent, ein anderes Klima, eine neue Kultur, eine fremde Sprache: Der Schritt ins Ungewisse bedürfe durchaus Mut – den ihre Grosseltern aufbrachten. Im Norden Argentiniens bewirtschafteten die Grosseltern und deren vier Kinder etwa zehn Jahre lang eine kleine Farm von 25 Hektaren. Das nötige Know-how erwarben sie in einem Schnellkurs vor Ort.
Anpassen und umdenken
Die Arbeit war hart, die Grosseltern wurden immer älter und von den Kindern wollte keines die Farm übernehmen. Also entschied man sich, als Brigitte Sala zwei Jahre alt war, nach Buenos Aires zu ziehen. Grossmutter und Mutter, beide unterdessen von ihren Männern getrennt, arbeiteten fortan als Schneiderinnen. Erstere in einer Textilfabrik, zweitere Zuhause, um für die Enkelin zu sorgen.
Eine Freundin holte die Frauen nach Bariloche, in den Südwesten Argentiniens. «Es sei schön dort, wie in der Schweiz, und im Tourismus gebe es viele Arbeitsmöglichkeiten», schwärmte diese. Dort angekommen pachtete die Grossmutter eine Pension. Erneut mussten sich die beiden Frauen anpassen, umdenken, sich wieder einfinden, und die vielen Zufälle, die das Leben ihnen zuspielte, geschehen lassen. Einer davon führte die Familie 1962 wieder zurück in die Schweiz, wo die heute 76-Jährige einige Jahre verbrachte, bevor die Liebe zu einem früheren Schulkollegen sie wieder zurück nach Argentinien zog.
Hinter Brigitte Sala verbirgt sich ein Tausendsassa. Kunstschülerin, Englischlehrerin, Cafébetreiberin. Die wirtschaftliche Lage machte sie und ihren Ehemann erfinderisch, bis die Wirtschaftskrise wenig Grund zur Hoffnung liess – und die Familie wieder zurück in die Schweiz zog. Mit im Gepäck immer die Kaffeekanne. War sie früher Gebrauchsgegenstand, so ist sie heute viel mehr Erinnerungsstück an ein bewegtes Leben – geprägt vom Gefühl der Entwurzelung – und des Ankommens.