Ein Stadtkind und ein Bauernmädchen

Anita Oester-Germann aus Thun und ihre Cousine Käthi waren ein Leben lang unzertrennlich. Einem unbekannten Fotografen gelang 1943 oder 1944 dieser Schnappschuss der beiden «Luusmeitschi».

Meine Cousine Käthi und ich hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Unsere Mütter waren Schwestern und wir nur ein halbes Jahr auseinander. War ich zu Besuch bei der Grossmutter in Münchenbuchsee, lagen wir schon als Babys nebeneinander im Kinderwagen. So nahm man uns überall hin mit, auch zur Arbeit aufs Feld.

Wann immer ich als Kind bleich aussah und Ringe unter den Augen hatte, schickten mich meine Eltern aufs Land. Dort genoss ich die Fürsorge, mit der das Grossmami mich «Stadtkind» aufpäppelte. Als meine Schwestern unter Scharlach litten, blieb ich einmal ganze sechs Wochen, das sind schöne Erinnerungen. Während ich mich daheim oft einsam fühlte, blühte ich in Münchenbuchsee richtig auf. Der Bauernhof war so etwas wie mein erster Kraftort.

Ich wuchs in Thun als Mittlere von fünf Mädchen auf und war eher scheu, wie es meinem Sternzeichen Skorpion entspricht. Meine Cousine Käthi hingegen war ein Bauernkind, jünger, aber viel «gwagleter» als ich – ein abenteuerlustiger kleiner Widder. In ihrem Windschatten wagte auch ich es, ein richtiges Luusmeitschi zu sein.

Ab durch den Hühnerstall

Einen unserer Streiche hält dieses Foto aus der Kriegszeit fest. Wir sassen damals beim Zmorge, als wir die Kirchenglocken hörten: eine Hochzeit! Mit Chirschi-Gonfi im Gesicht, ungekämmt und ungewaschen sprangen wir auf und rannten durch den Hühnerstall ins Unterdorf, was uns eigentlich verboten war. Als das Brautpaar aus der Kirche trat und Täfeli verteilte, füllten wir unsere Schürzentaschen. Daheim bemerkte niemand unser Fehlen – bis ein paar Tage später ein fremder Mann im Dorf herumfragte, ob jemand die beiden Meitschi auf dem Foto kenne… Natürlich schimpfte man mit uns, aber das hübsche Bild kauften die Verwandten dem Fotografen trotzdem ab. So blieb unser kleines Abenteuer bis heute in der Familie präsent.

«Luusmeitschi»: altes Foto von zwei kleinen Cousinen mit Konfi-verschmiertem Gesicht.
© zVg

Auf dem Foto stehe ich rechts mit eingebundener Hand, weil ich mich verbrannt hatte. Das war typisch: Irgendetwas war immer mit mir… Meine wilden «Chrusle» versuchte meine Grossmutter jeweils mit Anke-Papier zu bändigen – an den Geruch erinnere ich mich bis heute. Sie hatte Angst, weil ich wegen meiner Locken wie ein «Zigünerli» aussah. Es war die Zeit, als man Fahrenden ihre Kinder wegnahm.

Nach der Schule wollten mich meine Eltern in eine Büro-Lehre stecken. Doch ich weigerte mich – schliesslich sah ich tagtäglich, wie unglücklich mein Vater in seinem Bürojob war. Meine Eltern gaben nach und ich absolvierte eine Lehre als Verkäuferin in einem Plattengeschäft. Später schämte ich mich oft, dass ich trotz Sekundarschulabschluss nur Verkäuferin wurde. Auch deshalb machte ich mit vierzig noch ein Handelsdiplom.

Mit Haut und Haaren eine Frauenrechtlerin

Zusammen mit meinem Mann führten wir ein eigenes Elektroingenieurbüro. Ich war für die Buchhaltung zuständig und für den Computer – den ersten hatten wir bereits 1968, da war ich Pionierin. Zeitweise beschäftigten wir 12 Angestellte und arbeiteten immer gleichberechtigt auf Augenhöhe miteinander.

Die Gleichberechtigung war mir wichtig, deshalb engagierte ich mich schon früh politisch: Ich bin mit Haut und Haaren eine Frauenrechtlerin! Das Frauenstimmrecht und später das neue Eherecht haben wir nicht erkämpft, sondern durch jahrelange hartnäckige Arbeit erreicht.

Wir Frauen spannten für unsere Anliegen oft über die Parteigrenzen hinweg zusammen. Das war auch nötig, denn die Männer mauerten und wir mussten ihre Mauern immer wieder durchbrechen. Die geballte Frauenpower gefiel dabei nicht allen … In den Frauenvereinen wurde viel geleistet. Mir ist wichtig, dass das Engagement dieser Frauen nicht vergessen geht. Manchmal danken junge Frauen für unsere Arbeit, das freut mich.

Projekt «Anita»

Nach dem frühen Tod meines Mannes bereiste ich per Car die Welt und absolvierte ein Studium in Astrologie. Mit meinem Wissen konnte ich viele Firmen und Menschen begleiten und beraten. Im Gegenzug haben auch sie mich vieles gelehrt und mich weitergebracht.

Derzeit nehme ich mein letztes Projekt in Angriff: Es heisst «Anita». Ein Leben lang habe ich viel für andere getan – jetzt schaue ich zu mir. Da ich meine Energie nicht mehr fürs Kochen oder Waschen brauchen will, bin ich kürzlich ins Altersheim gezügelt. Nun möchte ich meine Tagebücher aufarbeiten. Zwei Meter Platz nehmen sie im Regal ein: Blättere ich darin, staune ich selbst, was ich alles erlebt und notiert habe.

Leider leide ich unter Polyarthritis, sehe und höre schlecht. Die 250 Bücher, die ich noch oder wieder lesen wollte, warten wohl vergeblich. Manchmal ziehe ich sie aus dem Gestell und ordne sie neu, das tröstet. Aber jammern bringt nichts, das weiss ich als Astrologin: Denn nach dem kosmischen Gesetz hat alles irgendwann einen Sinn und eine Zeit.

Aufgezeichnet von Annegret Honegger


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Beitrag vom 10.02.2022

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