Ein Mädchentraum

Das Zürcher Sechseläuten fällt diesen Frühling bereits zum zweiten Mal aus. Anna Maria Hofer aus Biel erinnert sich an den Kinderumzug Ende der 1940er Jahre.

Paradiesisch ist das Zürcher Schweighof-Quartier, wo ich aufwuchs, in meiner Erinnerung. Hinter unseren Genossenschaftshäusern gab es Gärten, einen riesigen Spielplatz, alte Bäume, Wiesen, ein Bächlein und einen grossen Bauernhof. Das Triemli-Spital wurde erst später gebaut, sodass wir am Stadtrand mitten in der Natur lebten.

Die Innenstadt kannten wir Kinder kaum. Aber jeden Frühling durften wir uns das Sechseläuten anschauen: Am Sonntag den Kinderumzug und am Montag den Umzug mit dem Böögg auf dem grossen Feuer, um den die Zünfter ritten. Einmal am Umzug teilnehmen, einmal ein solch vornehmes Kleid tragen… 1948 oder 1949 ging dieser Wunsch für meine Schwestern und mich in Erfüllung. Eine Tante lieh uns die Kostüme, die Nachbarin drehte uns Zapfenlocken und mein Vater fotografierte uns am Morgen vor dem grossen Ereignis. Elisabeth, Beatrice und ich – von links nach rechts – waren damals etwa sieben, acht und neun Jahre alt.

Schwarzweissfoto: Portrait von drei Mädchen in schönen Kleidern am Kinderumzug des Sechseläuten Ende der 1940er Jahre.
© zVg

Stolz und glücklich marschierten wir im Umzug durch Zürich und die berühmte Bahnhofstrasse, bewundert von Zuschauerinnen und Zuschauern links und rechts. Mir war, als ob ich träumte! Erst beim Zvieri erwachte ich wieder aus meiner Selbstvergessenheit und spürte, dass ich Hunger und Durst hatte und dass die Füsse schmerzten. Es war ein fast unwirkliches Erlebnis – vielleicht auch weil ich wusste, dass es einmalig bleiben würde.

Einige Jahre später zügelten wir weg aus der Stadt auf den Beatenberg im Berner Oberland, wo meine Eltern ein Kurhaus leiteten. Ich vermisste meine Freundinnen, war aber auch froh, vom verhassten Französischlehrer wegzukommen, der mich Hunderte Male «la lune, la lune, la lune» hatte schreiben lassen… Im Dorf gab es keine Sekundarschule, sodass wir mit dem Postauto hinunter nach Unterseen fuhren. Weil sich viele Familien das Schulgeld und das Billett nicht leisten konnten, waren wir nur wenige Kinder – ausser uns noch die Söhne und Töchter vom Bäcker, vom Apotheker und vom Coiffeur.

Sich fürs Alter engagieren

Später fand ich den Weg in die Soziale Arbeit und war in eigener Praxis im Bereich Familientherapie und Organisationsentwicklung tätig. Lange engagierte ich mich für Pro Senectute. Mir gefiel es, wenn ich etwas aufbauen und gestalten konnte. Ich bin ein sehr politischer Mensch, das habe ich wohl in den Genen. Mein Grossvater war der erste SP-Regierungsrat im Kanton Zürich und ich gründete in Biel die grüne Partei mit, für die ich auch aktiv im Stadt- und im Grossrat politisierte. Ich bin viel herumgekommen in meinem Leben und hatte immer interessante Aufgaben. Meine Generation erlebte gute Zeiten: Eine Stelle suchen musste ich nie, meist wurde ich einfach angefragt für eine neue Arbeit.

Für mich ist es selbstverständlich, dass ich mich auch im Alter und fürs Alter engagiere. Es gibt viele spannende Themen und Organisationen wie Seniorenrat. Klimaseniorinnen, ProSenior oder das «Denknetz gutes Alter». Es ist mir wichtig, dass wir Älteren mitreden und mitbestimmen können. Wobei das biologische Alter weit weniger entscheidend ist als die Gesundheit. Manchmal nenne ich mein Alter absichtlich nicht, weil ich die Erfahrung mache, dass viele einen dann kaum mehr ernst nehmen. Dass es mir noch so gut geht, empfinde ich als grosses Geschenk.

Bis heute stelle ich gerne Dinge auf die Beine, zum Beispiel unsere Frauen-Boule-Gruppe, die seit Ende März endlich wieder spielen darf. Ich lese leidenschaftlich gerne und habe nach Jahrzehnten – ich kann es selbst kaum fassen! – sogar wieder mit Stricken angefangen. Natürlich auch das in einer kleinen Frauengruppe.

Anderes musste ich aufgeben, weil mir die Kraft fehlt. Die Campingferien im französischen Jura mit meinem Partner waren immer etwas vom Schönsten. Dort konnten wir beide unserer Leidenschaft nachgehen, er dem Velo- und ich dem Kajakfahren. Bis heute bewohnen wir an diesem wundervollen Ort zwei Sommermonate lang einen Bungalow direkt am Fluss.

Derzeit schreibe ich mein «Leben in Episoden» nieder. Die Enkelin meines früheren Partners, für die ich Grossmutter bin, interessiert sich dafür. Dabei bin ich auf das Foto vom Sechseläuten und die schönen Alben gestossen, die mein Vater für uns verfasste. Obwohl ich politisch das Heu sicher nicht auf der gleichen Bühne habe wie die Zürcher Zünfter, wünsche ich ihnen trotzdem, dass die Zeiten sich bald bessern und der Umzug nächstes Jahr wieder stattfinden kann!

Aufgezeichnet von Annegret Honegger


Lesetipp: «Das waren noch Zeiten …», Band 6

Buchcover: Das waren noch Zeiten Band 6Zeitlupe-Leserinnen und -Leser erinnern sich an die legendären Jahre rund um 1968 – im bereits sechsten Band der Serie «Das waren noch Zeiten».

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Beitrag vom 14.04.2021

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