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«Wir müssen unser wichtigstes Sozialwerk sichern»

Alt Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf ist Präsidentin des Stiftungsrates von Pro Senectute Schweiz. Sie erklärt, warum die AHV21, über die wir am 25. September abstimmen, ein bedeutender Schritt in die richtige Richtung ist.

Interview: Annegret Honegger

Eveline Widmer-Schlumpf

Seit Jahren tut sich die Politik schwer mit der Reform unserer Altersvorsorge. Wie wichtig ist die Abstimmung über die AHV21?

Die Vorlage ist ein dringender erster Schritt zur Stabilisierung der AHV. Bei der Einführung 1948 kamen sechs Erwerbstätige auf eine Rentnerin oder einen Rentner. Heute sind es aufgrund der demografischen Entwicklung noch drei, Tendenz weiter sinkend. Die Erwerbstätigen müssen also mehr bezahlen, um der wachsenden Zahl der Pensionierten das zu ermöglichen, was in unserer Verfassung steht: ein würdiges Leben im Alter.

Was sind die Gründe für das Ja von Pro Senectute zur AHV21?

Die Stiftung hat sich seit ihrer Gründung 1917 für die Einführung und die Entwicklung der AHV eingesetzt. Damals wie heute engagieren wir uns dafür, dass die Generationen einander unterstützen. Wir sind nicht die Organisation «für die Alten», sondern «für das Alter». Auch für die Jungen, die älteren Menschen von morgen, müssen wir unser wichtigstes Sozialwerk sichern. Wir unterstützen die Vorlage auch, weil sie viele Punkte berücksichtigt, die wir in der Vernehmlassung einbringen konnten.

Welche?

Dass das Frauenrentenalter 65 für diejenigen, die kurz vor der Pensionierung stehen, finanziell ausgeglichen wird, war für uns zentral. Ebenso die Möglichkeit einer flexiblen Pensionierung. Weiter machten wir uns dafür stark, dass der Mehrwertsteuersatz für die Güter des täglichen Gebrauchs nicht oder nur wenig ansteigt.

Pro Senectute betont auch die Bedeutung des Generationenversprechens. Was ist damit gemeint?

Das Generationenversprechen bedeutet, dass jede Generation auf die Solidarität der nächsten vertrauen kann. Das Umlageverfahren der AHV baut auf doppelte Solidarität: Die Jüngeren bezahlen für die Älteren und diejenigen mit hohen Einkommen für die, welche weniger haben.

Viele Jungen befürchten aber, für sie bleibe kaum mehr AHV-Geld übrig.

Ich verstehe diese Bedenken nach so vielen Jahren, in denen zwar viel versprochen wurde, aber nichts passiert ist. Umso entscheidender ist es zu zeigen, dass wir fähig und willens sind, unsere Sozialwerke so zu stabilisieren, dass auch die Jungen noch davon profitieren können. Sie sind es schliesslich, die jetzt einbezahlen.

Was bedeutet die AHV21 für Wenigverdienende?

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Frauen in der AHV nicht schlechtergestellt sind als die Männer. Für Frauen und Männer mit kleinen Löhnen ist die Sicherung der AHV besonders wichtig. Derzeit leben 30 Prozent der Seniorinnen allein von der AHV und beziehen oft nicht einmal eine Maximalrente. Und was man oft vergisst: Auch 17 Prozent der pensionierten Männer haben keine BVG-Rente, sondern nur die AHV. Es ist Pro Senectute ein grosses Anliegen, dass die AHV21 Frauen mit kleinen Einkommen, die in den nächsten Jahren in Rente gehen, wie bisher eine Pensionierung mit 64 ohne finanzielle Einbussen ermöglicht. Arbeiten sie bis 65, erhalten sie einen lebenslangen AHV-Zuschlag, der umso höher ausfällt, je weniger sie verdienen. Zusätzlich werden Menschen in schwierigen Situationen auch gezielt über Ergänzungsleistungen zur AHV unterstützt. Diese sollten möglichst grosszügig bemessen werden.

Viele Frauen halten die AHV21 für eine Abbau-Vorlage auf ihrem Buckel.

Die AHV 21 hat weder einen Abbau noch eine Aushöhlung der AHV zur Folge. Von den erwähnten Ausgleichsmassnahmen profitieren neun Jahrgänge von Frauen, von denen viele aufgrund ihrer Biografie kein grosses Einkommen erzielen konnten und dies bis zur Pensionierung auch nicht nachholen können.

Frauen beziehen aber deutlich tiefere Altersrenten als Männer.

Das ist richtig, bedarf aber der Präzisierung. Die Zahlen zeigen klar, dass die AHV ein faires System mit ungefähr gleich grossen Renten für Frauen und Männer ist. Die Unterschiede zwischen Frauen- und Männerrenten liegen nicht an der ersten, sondern an der zweiten Säule. Diese benachteiligt Frauen in der heutigen Form deutlich. Wer sich für eine Stabilisierung der Altersvorsorge einsetzt, muss auch Ja sagen zur BVG-Reform.

Diese verzögert sich allerdings…

… was ich sehr bedaure. Die berufliche Vorsorge begünstigt immer noch die klassische Männerbiografie: Man arbeitet hundert Prozent mit stetig steigendem Lohn und möglichst immer beim gleichen Arbeitgeber. Personen, die in kleinen Pensen oder bei mehreren Arbeitgebern tätig sind oder Lücken in ihrer Erwerbsbiografie aufweisen, haben Nachteile. Dies betrifft bisher vor allem Frauen, aber in einer sich wandelnden Arbeitswelt und Gesellschaft auch zunehmend Männer. Pro Senectute befürwortet längst fällige Massnahmen wie eine tiefere Eintrittsschwelle und einen kleineren Koordinationsabzug. Ziel muss es im Übrigen sein, dass sich in Zukunft beide Geschlechter angemessen an der bezahlten und unbezahlten Arbeit beteiligen. Zu dieser Diskussion gehört auch, dass man sich ernsthaft Gedanken darüber macht, wie die Care-Arbeit, also die Pflege- und Betreuungsarbeit etwa in der Familie, auf die unsere Gesellschaft dringend angewiesen ist, aufgewertet werden kann. Mit Bezug auf das BVG bin ich zuversichtlich, dass man sich bald auf die dringend nötigen Reformen einigt. Denn nur beide Säulen zusammen sichern den bisherigen Lebensstandard auch im Alter.

Ist es gerecht, die bestehenden Renten nicht anzutasten?

Ein Standbein der AHV21 ist die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Dadurch bezahlen alle Konsumentinnen und Konsumenten mit, also auch die Pensionierten. Je mehr man konsumiert und je mehr Luxusgüter man kauft, desto höher der Beitrag. Das zweite Standbein erhöht das Frauenrentenalter, betrifft also die Pensionierten nicht mehr. Es gehört zum Generationenversprechen, dass man bestehende AHV-Renten nicht einfach kürzt.

Was, wenn die AHV21 abgelehnt wird wie die letzte Reform auch?

Dann wäre die AHV im Jahr 2028/29 nicht mehr in der heutigen Weise finanzierbar. Fehlen würden Milliarden, nicht nur ein paar Hundert Millionen. Zusätzliche Steuergelder oder weitere Sparmassnahmen wären nötig. Man müsste entweder in anderen Bereichen Abstriche machen oder deutlich tiefere Renten auszahlen. Wobei selbst die Maximalrente die Existenz bereits heute nur knapp sichert, von der Minimalrente gar nicht zu sprechen. Hier weiter zu reduzieren, wäre nicht der richtige Ansatz.

Die Reform bringt der AHV schwarze Zahlen bis Ende dieses Jahrzehnts. Ist sie bloss ein Tropfen auf den heissen Stein?

Diese kurzfristige Stabilisierung ist nur ein Anfang. Selbstverständlich muss die Diskussion über unser Drei-Säulen-System weitergehen. Wir sind es den Jungen schuldig, dass Generationengerechtigkeit und Solidarität nicht einfach Schlagworte für den 1. August sind, sondern dass das Parlament auch danach handelt. Für eine zukunftsfähige Lösung ist wieder die Kompromissbereitschaft aller Beteiligter gefragt.

Wie steht es darum?

Bei der zehnten und bisher letzten gelungenen AHV-Revision haben sich 1997 alle zusammengerauft. Die Reform erhöhte das Frauenrentenalter von 62 auf 64 Jahre und brachte Errungenschaften wie Erziehungs- und Betreuungsgutschriften, das Einkommenssplitting und die Möglichkeit des Rentenvorbezugs. Wie bei jedem guten Kompromiss konnte keine Seite ihre Wunschvorstellung vollständig durchsetzen. Aber alle gewannen dank einer fairen Lösung. Ich erwarte vom Parlament, dass es offen in die Diskussion über die Zukunft einsteigt. Verschanzen sich alle Beteiligten gleich zu Beginn hinter ihren roten Linien, rücken Kompromisse in weite Ferne.

Eine Initiative will Gewinne der Nationalbank für die AHV verwenden.

Vorschläge für alternative Geldquellen hört man oft. Ich bin aber der Meinung, dass sich ein Sozialwerk neben Steuergeldern aus sich selbst heraus finanzieren muss. Wer den Gewinn der Nationalbank, der laut Verfassung – nach Abzug einer Dividende für das Aktienkapital – zu zwei Dritteln den Kantonen gehört, für neue Zwecke verwenden will, verschiebt nur das Problem. Dann fehlt das Geld den Kantonen, die damit etwa Familien, ältere Menschen, Schule und Sport unterstützen. Solche Ideen, die mehr verwirren als klären, haben wohl oft zum Ziel, zu verunsichern und damit letztendlich den Ist-Zustand zu perpetuieren.

Ist ein höheres Rentenalter für alle unausweichlich, wie es die meisten europäischen Länder bereits anstreben?

Die Restlebensdauer mit 65 hat sich seit der Einführung der AHV von damals zehn auf heute rund zwanzig Jahre verdoppelt. Dass das Rentenalter irgendwie mit der gestiegenen Lebenserwartung Schritt halten muss, ist eine Diskussion, der wir uns nicht verschliessen können. Alles andere wäre unehrlich. Die Art und Weise der Umsetzung wird viel zu reden geben, auch weil längeres Arbeiten selbstverständlich nicht in allen Berufen möglich ist.

Pro Senectute plädiert für einen gleitenden Übergang in die Pensionierung.

Flexibilität, die auf die individuelle Lebenssituation Rücksicht nimmt, ist für mich das A und O. Unser Vorsorgesystem sollte einerseits jene entlasten, die nicht weiterarbeiten können, und andererseits jene motivieren, die weitermachen wollen. Viele könnten dadurch Beitragslücken schliessen und ihre Rente verbessern. Ich verstehe die oft negative Bewertung der beruflichen Tätigkeit nicht. Denn von einem Tag auf den nächsten keine Tagesstruktur und keine Aufgabe mehr zu haben, ist längst nicht für alle ideal. Die Älteren könnten wir in vielen Branchen als Unterstützung gut brauchen.

Werden auch unsere Enkelkinder noch ein würdig finanziertes Alter erleben?

Wenn wir jetzt die richtigen Schritte unternehmen, bin ich zuversichtlich, dass unsere Sozialwerke ihren Namen auch in Zukunft noch verdienen. Die jetzigen Generationen müssen alles dafür tun, um die Grundlage für diese Zukunft zu schaffen. Wer es ernst meint mit der Generationensolidarität, sagt ja zur AHV21.

Informationen: www.prosenectute.ch/ahv-reform

Darüber stimmen wir ab

Die AHV21 will das finanzielle Geleichgewicht der AHV bis ins Jahr 2030 sichern und so das Leistungsniveau erhalten. Einerseits wird das Rentenalter– neu spricht man von Referenzalter – bei 65 Jahren vereinheitlicht. Das Frauenrentenalter wird schrittweise erhöht und durch Ausgleichsmassnahmen für neun Jahrgänge kompensiert, die kurz vor der Pensionierung stehen. Der Renteneintritt ist dank Teilvorbezügen und Teilaufschüben zwischen 63 und 70 flexibel möglich. Zur zusätzlichen Finanzierung wird der Normalsatz der Mehrwertsteuer um 0.4 Prozentpunkte erhöht, der Satz für Güter des täglichen Gebrauchs um 01. Prozentpunkte.

Darum stimmen wir ab

Die AHV21 kommt vors Volk, weil linke Kreise und Frauenverbände das Referendum ergriffen haben. Für die Gesetzesänderung zur AHV ist ein Volksmehr nötig. Da es sich bei der Erhöhung der Mehrwertsteuer um eine Verfassungsänderung handelt, braucht es dafür zusätzlich eine Mehrheit der Kantone. Nur wenn beide Vorlagen angenommen werden, tritt die Reform in Kraft.

Beitrag vom 01.08.2022