Die Zeitlupe widmet sich fünf grossen Fragen zum Thema Zeit. Das Gute gleich vorweg: Ob die Jahrzehnte im Rückblick gerast sind oder sich dehnen, hat man auch in der eigenen Hand – ein wenig zumindest.
Text: Fabian Rottmeier
Schon mancher Philosoph und Physiker hat sich den Kopf darüber zerbrochen, was Zeit ist. Manchmal rast sie – doch sobald wir etwas erdulden müssen, schleicht sie. Und umfasst Zeit nur das Jetzt, also den Moment, den wir gerade erleben? Oder gehören die Vergangenheit und die Zukunft auch dazu? In den Antworten zu den folgenden fünf Fragen finden vielleicht auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, den einen oder anderen Denkanstoss für einen etwas anderen Umgang mit der Zeit. Oder, wie es im Talmud, einem der bedeutendsten Schriftwerke des Judentums, heisst: «Wer die Zeit drängt, den verdrängt die Zeit. Und wer der Zeit nachgibt, dem steht sie bei.»
Kann man beeinflussen, wie rasch die Zeit vergeht?
Ja. Das Beruhigende dabei: Vieles, was ein gesundes Altern beinhaltet, deckt sich mit einem erfüllenden Verstreichen der Zeit. Zeitforschende haben herausgefunden, dass dabei folgende Elemente zentral sind: Erlebnisse, intensive Gefühle, soziale Kontakte, Abwechslung und Aufmerksamkeit. Sie alle helfen, dass die Zeit im Moment selbst möglichst angenehm und schnell vergeht. Rückblickend aber dehnt sie sich und wirkt ausgefüllt und zufriedenstellend. Klingt widersprüchlich, aber das sogenannte Zeitparadox ist wissenschaftlich erwiesen.
Die Erklärung: Die erwähnten Schlüsselelemente führen alle zu einer grösseren Achtsamkeit. Unsere Sinne sind geschärft, wir erleben alles bewusster und erinnern uns später besser und detaillierter. Bestes Beispiel sind Ferien, in denen wir in einer fremden Umgebung täglich neue Orte besuchen. Unser Körper nimmt in diesen kurzweiligen Tagen viele Details wahr. Am Ende erinnern wir uns an eine gefühlt lange Zeitspanne. Marc Wittmann, Zeitforscher, Psychologe und Humanbiologe in Freiburg i. B., erklärt es so: «Neue und abwechslungsreiche Erlebnisse sowie Emotionales strecken die Zeit im Rückblick. Routine hingegen ist der Zeitkiller.» Wenn es also gelinge, gegen die Routine zu arbeiten, würden wir die gefühlte Lebenszeit verlängern.
Es gibt auch Mittel, um die Zeit retrospektiv positiv zu beeinflussen beispielsweise durch Meditation. «Sie ist nichts anderes als der Fokus auf den Moment», sagt der Autor mehrerer Bücher zum Thema Zeit. Indem man lerne, seine Aufmerksamkeit besser zu steuern, aktiviere man auch diejenige Gehirnregion besonders, die für das Langzeitgedächtnis verantwortlich sei (und verbessert dabei gleichzeitig seine Konzentrations-und Wahrnehmungsfähigkeit – und lindert Angst-und Depressionsreaktionen).
Marc Wittmanns Tipp für Neulinge: Aufs Sofa sitzen und versuchen, sich drei Minuten lang nur auf seine Atmung zu konzentrieren, ohne dabei gedanklich abzuschweifen. «Das fällt zu Beginn sehr schwer», hält der 56-Jährige fest. Ein Timer helfe, dass man nicht an die Zeit denke. Der Nutzen des regelmässigen Meditierens: Man werde aufmerksamer, nehme mehr wahr und könne sich an mehr Details erinnern. Aber auch Spaziergänge oder ein Tagebuch würden helfen, Erlebtes zu rekapitulieren und das Gedächtnis zu stärken – und dadurch zufrieden zurückzuschauen.
Verfliegt die Zeit tatsächlich immer schneller, je älter wir werden?
Jein. Der Eindruck täuscht zwar nicht. Er trifft aber nur zu, wenn man die letzten zehn Jahre als Mass betrachtet. Eine Studie von Marc Wittmann in Österreich und Deutschland ergab, dass das letzte Jahrzehnt ab dem Jugendalter bis zu einem Alter von ungefähr 60 Jahren stetig rascher vergangen schien. Erst mit 60 Jahren erreichte diese Beschleunigung ihr Plateau. Die Ergebnisse der Studie haben sich inzwischen auf anderen Kontinenten in Industrienationen wie Japan oder Neuseeland bestätigt. Die Studie konnte aber keinen Unterschied feststellen, wenn Menschen verschiedenen Alters einschätzen sollten, wie rasch die letzte Woche, der letzte Monat oder das letzte Jahr passé waren.
Dass die letzten zehn Jahre für jüngere Erwachsene länger scheinen, liegt für die deutsche Zeitforscherin und Soziologin Elke Grosser daran, dass wir in jüngeren Jahren generell mehr und viel Neues erleben würden. «Wir erwerben in dieser Lebensphase neue Fähigkeiten. Unser Gehirn speichert diese Erfahrungen ab und bildet neue Spuren im Gedächtnis, denn das Gefühl für die Zeit speist sich aus dem Gedächtnis.» Diese Erfahrungen seien prägend für unsere Erinnerung und würden die Zeit im Nachhinein länger andauern lassen. Dann, später, prägen Kinder oder langjährige Partnerschaften unseren Alltag. «Je älter man wird, desto mehr Routine und Gewohnheiten schleichen sich in den Alltag.» Neues wird seltener. Die Zeit vergehe rückwirkend rascher, «weil die subjektive Zeitwahrnehmung von unseren Erinnerungen abhängig ist», hält Elke Grosser fest.
Thomas Mann hat bereits 1924 in seinem Romanklassiker «Der Zauberberg» treffend geschrieben: «Wenn ein Tag wie alle ist, so sind alle wie einer; und bei vollkommener Einförmigkeit würde das längste Leben als ganz kurz erlebt werden.»
Spannend: Die Neuauswertung einer früheren Studie von Marc Wittmann ergab, dass das zurückliegende Jahrzehnt für Menschen mit Kindern rascher vergangen ist als für Kinderlose. Und: Je mehr Kinder, desto schneller rasten die Jahre.
Oft wird das Gefühl der beschleunigten Jahre auch damit erklärt, dass ein Jahr im Verhältnis zur gelebten Zeit immer kürzer werde. Marc Wittmanns erwähnte Studie konnte diese Annahme nicht bestätigen. Er schrieb dazu in seinem Buch «Gefühlte Zeit», dass es zweifelhaft sei, ob solche Rechenspiele dem Gefühl von Lebenszeit wirklich zugrunde liegen würden. «Sie beschreiben lediglich das Phänomen.»
Wie entsteht das menschliche Zeitgefühl?
Es gibt kein eigentliches Sinnesorgan für die Zeit. Vielmehr nehmen wir sie durch viele Organe in unserem Körper wahr, die ihre Signale ununterbrochen ans Gehirn leiten. Dort nimmt die Insula, ein Teil der Grosshirnrinde, die Signale auf (wie etwa Durst, Kälte oder Hunger). Wie Zeitforscher Marc Wittmann mittels MRI-Aufnahmen belegen konnte, «ist der subjektiv gefühlte Moment mit der Insula gekoppelt». Dabei spielen auch Herzsignale eine wichtige Rolle – ja sogar der Herzrhythmus. Bei Erlebnissen misst unser Körper die Zeit auch am veränderten Puls. «Wenn er sich verlangsamt, werden wir aufmerksamer», sagt Marc Wittmann. Motorische Areale des Gehirns sind ebenfalls beteiligt, indem sie das Timing unserer Bewegungen steuern.
Licht und Temperatur wiederum sind wichtige Signale für unsere biologische Uhr. Sie steuern unseren Schlaf-Wach-Rhythmus und regulieren die Körpertemperatur sowie den Stoffwechsel. Auch die Atmung ist ein Taktgeber, wie Marc Wittmann in «Gefühlte Zeit» schreibt: «Es ist nicht von ungefähr, dass eine Periode des entspannten Atmens etwa drei Sekunden beträgt. Eine Atemperiode hat exakt die Dauer des erlebten Momentes.»
Wie gelingt die Balance zwischen zu viel und zu wenig Zeit?
«Es gibt kein Zuviel oder Zuwenig an Zeit, wenn die Balance zwischen den eigenen Bedürfnissen und den gegebenen Rahmenbedingungen stimmt und wir uns Aufgaben widmen, die befriedigen», schreibt Pasqualina Perrig-Chiello auf Anfrage. Die Entwicklungspsychologin und Psychotherapeutin beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Alters-und Generationsfragen. Für Pensionierte, die zu viel oder zu wenig Zeit haben, hat die emeritierte Honorarprofessorin der Universität Bern viele Tipps parat, die zum Nachdenken (und Handeln!) anregen:
Zu wenig Zeit:
Sich unbequemen Fragen stellen: Wozu tue ich mir das alles an? Bin ich wirklich so unersetzlich? Warum brauche ich so viel Bestätigung? Was kommt zu kurz? Weshalb nehme ich meine Bedürfnisse nicht besser wahr? Warum will ich es allen recht machen? Weiss ich, was mir guttut?
Selbsterkenntnis: Man muss niemandem gefallen. Weniger ist mehr!
Eigenzeit/Auszeiten einplanen
Alltag strukturieren und Grenzen setzen
Bei einer Überlastung durch Betreuungsaufgaben: mit Angehörigen besprechen und wenn nötig, professionelle Hilfe einholen
Zu viel Zeit:
Verantwortung für sich selbst übernehmen – nicht warten, dass andere etwas tun
Liste erstellen mit Dingen, die einem Freude machen Ziele setzen und sich in kleinen Schritten annähern
Tagesabläufe erstellen und wöchentlich zwei bis drei Aktivitäten unter Leuten einplanen
Am Quartier-/Dorfleben teilnehmen (Vereine, Freiwilligenarbeit, Kulturangebote)
Angebote von Organisationen in Anspruch nehmen, z. B. Kurse besuchen (Pro Senectute, Kirchgemeinden, Rotes Kreuz etc.)
Prägt der näher rückende Tod unser Zeitempfinden?
Wer gesund alt wird, denkt in seinem Alltag nicht mehr an den Tod als in jüngeren Jahren – so das Resultat der Bonner Gerontologischen Längsschnittstudie, die von 1965 bis 1981 dauerte. Doch es gibt Untersuchungen, die bei 60-bis 85-jährigen Frauen aufgezeigt haben, dass eine erhöhte Angst vor dem Tod dazu beitragen kann, dass sich das Zeitgefühl beschleunigt. Wichtig scheint es da, so Marc Wittmann, sich eine Zukunftsperspektive zu erhalten, auch wenn deren Reichweite abnehme. Der Blick nach vorn sei wichtig für das persönliche Wohlbefinden. Wir lernen: Vorfreude ist nicht nur schön, sondern auch gesund.
Dass man sich im Alter seiner schwindenden Lebenszeit bewusst wird, nimmt der Theologe und Ethiker Heinz Rüegger auch als Chance wahr, wie er im Gespräch sagt: «Das Leben intensiviert sich, wenn ich mir meiner Endlichkeit bewusst bin und mich damit auseinandersetze.» Man sei gezwungen, sich zu fragen, wie man die verbleibende Zeit möglichst sinnvoll nutzen möchte. Dem Zürcher Gerontologen gefällt der Gedanke, «abschiedlich zu leben», wie es die Psychoanalytikerin Verena Kast nennt. «Wer das Ende nicht als Bedrohung, sondern als Teil des Lebens akzeptiert, lebt intensiver», sagt der 70-Jährige. Es sei auch nichts Falsches daran, als hochaltriger Mensch lebenssatt zu werden und, ähnlich wie im Herbst, eine Zeit der Ernte und Dankbarkeit zu verspüren. Der Tod werde dabei nicht ersehnt, aber mit einer gewissen Gelassenheit akzeptiert.
Heinz Rüegger sieht im Alter vor allem im Erleben der Zeit einen Unterschied: In jungen Jahren sei Zeit primär ein Raum der Gestaltung. «Im fortgeschrittenen Alter erlebt man die Zeit vermehrt als Raum des Seins – statt des Tuns.» Wer sich darauf einlasse und nicht ständig krampfhaft versuche, seine Agenda zu füllen, könne eine gewinnbringende Zeiterfahrung erleben.
Buchtipps
Marc Wittmann: «Gefühlte Zeit – Kleine Psychologie des Zeitempfindens», Verlag C.H. Beck
Karlheinz A. Geissler und Jonas Geissler: «Time is honey – Vom klugen Umgang mit der Zeit», Oekom Verlag
Rüdiger Safranski: «Zeit – Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen», Carl Hanser Verlag
Zeit ist nicht vererbbar, das Bewusstsein dafür schon: Fabienne und Chantal Muri führen mit ihrer Luzerner Firma «Daughters of Time» die Arbeit ihres Grossvaters und Vaters fort – mit Beratungen. Lesen Sie hier den Artikel über die beiden.
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