© Marijke Krekels

Ein Revoluzzer im Pflegeheim

Der Holländer Teun Toebes zog mit 21 Jahren in die Demenzabteilung eines Pflegeheims, um herauszufinden, wie man die Betreuung verbessern könnte. Er gewann Freunde fürs Leben.

Text: Claudia Senn

Es gibt viele verrückte Dinge, die junge Leute heutzutage so tun, um die Welt zu verbessern. Manche kleben sich mit Sekundenleim an der Gotthard-Autobahn fest. Andere bewerfen ein Gemälde von Claude Monet mit Kartoffelstock, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen. Teun Toebes tat etwas viel Wagemutigeres: Er zog mit 21 Jahren in der Demenzabteilung eines Pflegeheims ein, umherauszufinden, wie man das Pflegesystem verbessern könnte.

Der junge Holländer hatte mitbekommen, wie erst seine Grosstante an Demenz erkrankte und dann seine Grossmutter. Toebes, selbst in der Ausbildung zum Pflegefachmann, gefiel nicht, was er sah in dem Pflegeheim, wo die Grosstante während ihrer letzten Monate untergebracht war. Er wusste, dass auch er ein etwa zwanzigprozentiges Risiko in sich trug, dereinst an einer Demenzerkrankung zu leiden. Wollte er dann in einem Haus leben, in dem die Einsamkeit durch die Flure hallt, und der Lärm eines dröhnenden Fernsehers im Gemeinschaftsraum das einzige Lebenszeichen zu sein scheint? «Auf gar keinen Fall.»

Mitsamt seinen Habseligkeiten zog Toebes im Jahr 2020 in das leerstehende Büro eines Pflegeheims in Utrecht. Die Heimleitung unterstützte sein Experiment. Toebes arbeitete hier nicht als Pflegekraft. Er wollte ein Bewohner sein wie alle anderen auch, zu den Krankenakten hatte er keinen Zugang. In seinem Zimmer erwartete ihn die übliche Willkommensbox, bestehend aus einem Becher für die Zahnprothese, einem Urinal, einem Päckchen Inkontinenzmaterial, einem Proteindrink und einer Tafel Schokolade. Daneben ein Kärtchen: Willkommen im Pflegeheim! Sein neues Leben konnte beginnen.

Teun Toebes ist ein Mann, der die 70er-Jahre-Brille seines Grossvaters mit Stolz trägt, dazu wilde Locken, in denen er immerzu herumwuschelt, Hosen mit Zebramuster und ein Lächeln, das die Polkappen zum Abschmelzen bringen könnte. «Ich liebe Menschen», sagt er, «egal, welchen Alters.» Logisch, dass sich die Sensation seiner Ankunft unter den Mitbewohnern herumsprach wie ein Lauffeuer. 

Weisswein und tropische Musik

Als erster fing Ad damit an, bei seinem neuen Freund abends ein Bierchen zu zischen. Dann folgte Tineke, die sich zwar nicht immer an seinen Namen erinnerte, wohl aber an das Gefühl, das sie empfand, wenn er sie umarmte. Als Toebes sein Pflegediplom wegen der Pandemie in einer Zoom-Zeremonie überreicht bekam, zündeten seine Mitbewohner im Hintergrund eine Konfettibombe. Im Sommer zog er seinen alten Wohnwagen in den Hof des Pflegeheims, damit sie alle davorsitzen und ein bisschen Ferienfeeling haben konnten, bei Weisswein und tropischer Musik. Manchmal wurde sein Zimmer auch zu einer Art Beichtstuhl, in dem alles besprochen werden durfte: Einsamkeit, Politik, Sex, Religion, Klimawandel oder Tod. 

Quelle: Facebook

Mit etlichen seiner Mitbewohnerinnen und Mitbewohner ist Teun Toebes heute befreundet. Die Krankheit und der Altersunterschied seien kein Hinderungsgrund, findet der inzwischen 23-Jährige. Niemals spricht er von «Dementen», sondern stets von «Menschen mit Demenz». Man solle niemanden auf seine Krankheit reduzieren, sagt er. Trotzdem passiere das immer wieder. Der Lebensradius von Menschen mit Demenz beschränke sich nach der Diagnose oft auf das «Drinnen» – die geschlossene Abteilung –, während sie am «Draussen» kaum noch teilnehmen dürften. 

Manche hätten Angst davor, eingesperrt zu sein und versuchten, aus dem Pflegeheim «auszubüxen», sagt Toebes. Er schlägt vor, «die Menschen zum Bleiben zu verführen, sodass sie erst gar nicht das Bedürfnis haben wegzulaufen.» Das Gefühl, eingesperrt zu sein, in ein Gefühl des Zuhause-Seins zu verwandeln – darum ginge es. Jeder Mensch wolle schliesslich an einem Ort wohnen, den er als angenehm empfindet, auch Menschen mit Demenz.

Mancherorts unternimmt man durchaus viel, um es den Bewohnerinnen und Bewohnern behaglich zu machen. In der Schweiz existieren Vorzeigeheime wie die «Sonnweid» in Wetzikon, mit geschmackvoll möblierten Räumen, Kunst an den Wänden und einem idyllischen Garten. Andere Institutionen halten sogar einen Streichelzoo. Oft schiessen die Bemühungen aber auch am Ziel vorbei. In Teun Toebes’ Pflegeheim etwa versucht man, die Spitalatmosphäre mit Wandtapeten kaschieren, die Bücherregale simulieren oder romantische Naturlandschaften. Es gibt eine Plüschkatze, die schnurrt, wenn man sie streichelt und einen Beamer, der digitale Schmetterlinge auf den Tisch projiziert. 

Für Toebes ist das alles «bloss fake!». Menschen mit Demenz wollten ein echtes, lebendiges Umfeld, ist er überzeugt. Er versteht nicht, warum sein Heim für 25’000 Euro teure Plastikpflanzen erstand, obwohl man für denselben Betrag doch ein ganzes Gartencenter voller herrlicher, lebendiger Pflanzen leerkaufen könnte. Als er sich nach dem Grund erkundigte, antwortete die Heimleitung, verwirrte Bewohnerinnen oder Bewohner könnten versuchen, die Pflanzen zu essen. 

Prominenter Demenzaktivist

«Wir kreieren also eine Regel, die für alle gilt, aufgrund des individuellen Risikos einzelner», sagt Teun Toebes. Das heutige Pflegesystem sei mehrheitlich auf Kontrolle und Sicherheit ausgerichtet statt auf Glück und Zusammengehörigkeit, findet er. «Aber das Leben ist nun mal riskant, auch für Menschen mit Demenz.» Es müsse doch, so findet er, eine Balance geben zwischen Kontrolle und Lebensqualität. 

Teun Toebes und Bewohnerinnen im Pflegeheim.
© zVg

Nicht alle Pflegenden reagieren auf solche Kritik positiv. Für manche sei er «wie eine Laus im Pelz», so Toebes, ein Störenfried, der lange eingespielte Routinen in Frage stellt. Aus dem 23-Jährigen ist inzwischen ein prominenter Demenz-Aktivist geworden, der sogar vom holländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte empfangen wird. Über seine Erfahrungen im Pflegeheim hat er ein vielbeachtetes Buch geschrieben*, das in Holland die Bestsellerliste anführte. In den Sozialen Medien erreicht er 100’000 – zumeist junge – Follower. «Demenz ist etwas zutiefst Menschliches», sagt er, «das spüren die Leute, auch wenn sie altersmässig noch weit davon entfernt sind, selbst daran zu erkranken». 

Die von ihm gegründete Stiftung Article 25 Foundation (article25foundation.com) ermöglicht Menschen mit Demenz glückliche Momente wie Silent-Disco-Partys im Pflegeheim oder Ausflüge zu Lieblingsferienzielen, Restaurants und früheren Arbeitsstätten. Zudem tingelt Toebes gemeinsam mit einem Filmteam durch Pflegeheime in 15 verschiedenen Ländern, um unterschiedliche Pflegekonzepte kennenzulernen. Auch in der Schweiz machte er Station («kein grosser Unterschied zu den Niederlanden»). Der aus diesem Material entstehende Dokumentarfilm soll während des G20-Gipfels Anfang Oktober zum ersten Mal in Amsterdam gezeigt werden.

Unserem Pflegesystem mangle es nicht an Platz oder Geld, sagt Teun Toebes und fährt sich durch seine wilden Locken. Was fehle, seien Empathie und Menschlichkeit. Aus seiner Sicht ist die Lösung ganz einfach: Menschen mit Demenz sollten als gleichwertige Individuen gesehen werden statt als Bewohnerinnen, Patientinnen, Klientinnen. «Gute Pflege bedeutet, den Menschen zu zeigen, dass sie dazugehören.»

Teun Toebes: «Der 21-Jährige, der freiwillig in ein Pflegeheim zog und von seinen Mitbewohnern mit Demenz lernte, was Menschlichkeit bedeutet». Knaur-Verlag, München 2023, ca. 30 Franken.

Beitrag vom 30.05.2023
  • Buralli-Gossweiler Verena sagt:

    ich bekomme Hühnerhaut beim lesen dieses Artikels.

  • Nick-Lämmlin Emma sagt:

    Dieser Artikel sollte Pflichtlektüre für alle sein. Super, hoffentlich bald vermehrt anzutreffen. Empathie und Menschlichkeit fehlt in unserer Gesellschaft leider allgemein.

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