Verena Kast: «Vorfreude ist Zukunft»
Die renommierte Psychologin und Psychotherapeutin Verena Kast gilt als Pionierin der Trauerforschung – rührt aber fast noch lieber für die positiven Gefühle die Werbetrommel. Die 81–Jährige weiss um deren Kraft.
Interview: Fabian Rottmeier, Fotos: Stephan Bösch
Frau Kast, Sie befassen sich seit fast 60 Jahren mit der menschlichen Psyche. Was fasziniert Sie daran noch immer?
Verena Kast: Menschen sind unglaublich interessant, weil sie selten gleich handeln. Da kann ich die Angstreaktion als Fachperson im Detail kennen: Im Einzelfall reagiert jede Person anders – manchmal sehr überraschend. Beeindruckt bin ich ausserdem von unserer Selbstheilungskraft, dank der wir aus schwierigen Situationen einen Ausweg finden.
Welche Erkenntnisse musste die Fachwelt in diesen Jahrzehnten revidieren?
Als ich in den Achtzigern zur Trauer forschte, war sie etwas, das es soldatisch und tapfer zu überstehen galt. Man musste sie aushalten. Heute ist sich die Fachwelt einig, dass sich Trauer nicht beiseiteschieben lässt. Und nur wer dabei Gefühle zulässt, kann sich weiterentwickeln. Eine weitere wichtige Veränderung geschah in den Sechzigern und Siebzigern, als Autonomie zum wichtigen Konzept wurde, weil man zu abhängig war von Autoritäten. Heute geht mit diesem starken Streben nach Autononomie etwas verloren: Wer sich anderen nicht verbunden fühlt, ist «unterernährt». Die Probleme unserer Zeit lösen sich nicht mit Autonomie. Nur das Können vieler Einzelner schafft Lösungen. Wer nur autonom denkt, wird zudem ängstlich. Und in der Angst brauchen wir Hilfe.
In den Achtzigern begannen Sie sich als Dozentin mit positiven Gefühlen zu beschäftigen. Weshalb?
Einerseits, weil die Wissenschaft diese Gefühle vernachlässigte. Andererseits wollte ich nicht bloss als «Trauer-Kast» gelten, weil mir Freude wichtig ist. Sogar im Trauerprozess gibt es sie kurzzeitig. Beim Waldspaziergang oder beim Essen etwa. In diesen Momenten erhält das Leben wieder eine Anziehungskraft. Als mich damals ein befreundeter Psychologe fragte, woran ich arbeite, erwiderte er auf meine Antwort: «Das kannst du nicht machen! Freude ist etwas für Kinder und Frauen. Du machst dich lächerlich!»
«Die Probleme unserer Zeit lösen sich nicht mit Autonomie.»
War seine Reaktion ein Ansporn?
Sie hat mich eher amüsiert als verärgert. Vielleicht wurde Freude ja gerade deshalb geringgeschätzt, weil sie als Emotion von Frauen und Kindern galt. Das ist zum Glück längst passé. Freude ist, wenn ich etwas bekomme und dankbar bin, weil es mehr ist, als ich erwartet habe. Diese Haltung entspricht meiner Lebensphilosophie.
Ihre Bücher tragen selbst bei schweren Themen im Titel oft eine gewisse Leichtigkeit. Eine Journalistin bezeichnete Sie einst als «die grosse Versöhnerin». Wie gefällt Ihnen diese Umschreibung?
Ich kann sehr gut Brücken bauen. Sieht man darin ein Versöhnen, kann ich mich gut damit identifizieren. Im Alter erhalte ich viele berührende Nachrichten. Treue Leserinnen und Leser bedanken sich und schreiben, dass ich sie ermutigt habe. Dieses Bild gefällt mir noch besser. In uns stecken viele Ressourcen. Leider kommt uns manchmal der Hang, alles zu generalisieren, in die Quere.
Wie meinen Sie das?
Wer sagt, alles sei schwierig und kaputt, hat resigniert und verharrt in seiner Position. Wer sich jedoch auf einen Schmerz einlässt, etwa, weil er eine Arbeitsstelle nicht erhalten hat, kann versuchen, die Situation genauer zu ergründen: Weshalb tut es weh? Weil es ein Traumjob war? Gibt es andere Gründe? Die Antworten darauf helfen, Lösungen aufzuzeigen. Auch kreative.
Sie schreiben, dass wir Freude durch positive Gedanken und Erinnerungen selbst auslösen können, und propagieren die «Selbstansteckung». Was sind Ihre besten Mittel im Alltag?
Erfreuliche Situationen nehme ich heute bewusst wahr. Schauen Sie dort hinten, im Garten, wie bei meiner Rose während meiner Ferien ein Trieb gewachsen ist, der nun bereits blüht. Das ist faszinierend. Ich begutachte die Rosenköpfe jeden Morgen von nah und begrüsse sie. Das ist meine Freudensituation.
Freude wirke auch auf andere ansteckend, schreiben Sie.
Es ist faszinierend, wie ansteckend Gefühle wie Freude in einer Gruppe sind. In Seminaren führt das Teilen von schönen Erinnerungen zu einer wachsenden Lebendigkeit im Raum. Wer hingegen zu einem genervten Team stösst, wird rasch selbst ärgerlich. Ich treffe mich deshalb lieber mit heiteren Menschen oder lese gerne Bücher, die selbst dann eine leichte Seite haben, wenn ihr Grundton ernst ist. Aktuell empfehle ich «22 Bahnen» von Caroline Wahl. Eine dramatische Geschichte mit herzerfrischenden Szenen.
Zur Person
● Die am 24. Januar 1943 geborene Verena Kast wächst in Wolfhalden AR, unweit von Heiden, auf einem Bauernhof über dem Bodensee auf – als Nachzüglerin von drei Geschwistern.
● Nach zwei Jahren als Oberstufenlehrerin beginnt sie mit 20 Jahren ihr Studium. Sie wird Psychologin, Psycholanalytikerin, Professorin für Psychologie an der Universität Zürich, Dozentin und Lehranalytikerin am C. G. Jung-Institut Zürich, fleissige Buchautorin, selbstständige Psychotherapeutin sowie langjährige wissenschaftliche Leiterin der Lindauer Psychotherapiewochen. Sie lebt in St. Gallen.
● Hörtipps: Die achtteilige Gesprächsserie «PodKast» der Lindauer Psychotherapiewochen (2021), hörbar auf zeitlupe.ch/podkast, sowie das «Focus»-Gespräch von SRF (2024), zu finden auf zeitlupe.ch/focus
In Ihrem neuen Buch erwähnen Sie Forschungen, die besagen, dass der Zugang zu positiven Emotionen im Trauerprozess das Wohlbefinden steigern – etwa durch Dankbarkeit. Nahmen Sie dies auch als 26-Jährige so wahr, als Ihr Lebenspartner unerwartet starb?
Ich habe wohl einfach danach gelebt. Ich bin ein mutiger Mensch, so bin ich veranlagt. Zudem musste ich mich oft durchsetzen. Träume halfen mir stets, Verluste zu verarbeiten. Ich träumte von Dingen, die ich gerne tue. Ich schwamm unendlich weit. Statt dies symbolisch zu deuten, nahm ich mir beim Aufwachen vor: «Heute gehe ich schwimmen!» Es bedeutete Lebensfreude.
«Kranke Menschen erkennen das Glück besser als die gesunden.»
Weshalb lohnt es sich, auch die Vorfreude stärker zu pflegen?
Vorfreude ist Zukunft. Und Zukunft ist wichtig für unsere Physis. Wer keine Fantasien mehr hat, wie das Leben weitergehen soll, verliert auch seine Zukunft. Und wird depressiv. Vorfreude ist die einzige Freude, die rein imaginativ ist. Mit ihr schwingt immer ein wenig Angstlust mit, das ist spannend. Wer die Vorfreude abklemmt, um eine Enttäuschung zu vermeiden, bringt sich oft um etwas Schönes. Mein Credo: Wenn ich schon enttäuscht werde, so hatte ich wenigstens die Vorfreude! Aber ohne Erwartungen keine Vorfreude.
Sie plädieren dafür, positive Emotionen als Ressource zu nutzen. Wie gelingt dies auch denjenigen, die – etwa aus gesundheitlichen Gründen – mit ihrem Leben hadern?
Indem sie von anderen lernen. Heute Morgen habe ich wieder einmal in Viktor E. Frankls Buch «… trotzdem Ja zum Leben sagen» gelesen. Der Psychologe beschreibt darin eindrücklich, wie er während des Konzentrationslagers, abgemagert und schlotternd, an seine Frau dachte und sich schöne gemeinsame Erlebnisse ausmalte. Seine Vorstellungskraft half ihm. Ich habe immer wieder kranke Menschen angetroffen, die dankbar waren für alles, was noch möglich ist. Sie erkennen das Glück besser als die gesunden.
Ist das Leben also am Ende bloss Ansichtssache?
Auch. Es hilft, sich immer wieder zu fragen: Was war, was hat mich gefreut, was hat mich beschäftigt? Das Resultat ist meistens weder schwarz noch weiss, sondern grau. Es gibt den Abschied, und es gibt das Verlieren, und jedes Verlieren ist auch ein Neubeginn. Ich kann mich entweder auf den Verlust konzentrieren oder aber auf den Übergang oder das Neue.
Erinnerungen beschreiben Sie auch als «psychische Heimat». Wie gelingt gesundes Erinnern – fern der Verklärung und Nostalgie?
Es beginnt beim Bewusstsein, dass wir dazu tendieren, Erinnerungen nostalgisch zu verklären. Wir machen spätestens dann etwas falsch, wenn wir nur die Erinnerung gelten lassen und das Heute und die Zukunft verteufeln. Dann erinnern wir uns bloss noch aus Angst. So funktionieren ja auch die politischen Strömungen, die das Rad der Zeit zu Wilhelm Tell zurückdrehen möchten. Grundsätzlich kann uns die Erinnerung aber niemand nehmen. Während die Zukunft prekär bleibt, ist es die Vergangenheit nicht. Sie ist vorbei. Deshalb kann man sich darin auch prima einrichten. Und deshalb ist Erinnerung auch Heimat.
Folgendes Zitat stammt aus einem Ihrer Vorträge: «Wer älter wird, hat ein Bedürfnis, einen Überblick über sein Leben zu bekommen.» Wie fällt Ihr persönliches Fazit dazu aus?
Woran wir uns gerade erinnern, hängt stark von unserer Stimmung ab. Wenn ich heiter bin, denke ich an Schönes zurück, wenn ich verärgert bin, an Ärgerliches. Dies versuche ich als Psychotherapeutin zu nutzen. Mittels Erinnerungen kann ich niedergeschlagene Patienten aus ihrer Lethargie holen. Um Ihre Frage zu beantworten: Diese Erkenntnisse haben auch auf mich abgefärbt. Kürzlich sah ich im benachbarten Tierpark ein Mädchen, das ein Buch las, statt den Tieren zuzuschauen. In ihr sah ich mich wieder und dachte an meine Kindheit zurück, in der mich Geschichten aus meiner Langeweile katapultierten.
Die Erfahrungen, als Nachzüglerin im appenzellischen Wolfhalden aufgewachsen zu sein, führten dazu, dass Sie die Langeweile mieden. Noch heute?
Ich war ein aktives Kind, das auf dem Bauernhof wenig Anregung fand. Mein Grossvater war meine wichtigste Bezugsperson, starb jedoch, als ich siebenjährig war. Seine Geschichten und Märchen fehlten mir. Ich las viel und führte mit Holzfiguren ganze Dramen auf. Auch heute mag ich die Langeweile nicht, in Sitzungen finde ich sie ätzend. Die Ausnahme: Allein zuhause, konzentriere ich mich in der Langeweile auf mein Inneres. Mit etwas Geduld schiesst mir eine Idee durch den Kopf. So nutze ich die Langeweile als kreativen Boden.
Sie ermutigen, auf «das gelebte Leben» zurückzuschauen – und nicht darauf, was hätte sein können.
Das ist sehr wichtig. Viele leiden darunter, wenn sie sich wiederholt vor Augen führen, was sie noch gerne alles erreicht hätten. Stattdessen sollte man sich bewusst sein, dass jeder Entscheid für etwas gleichzeitig ein Entscheid gegen eine andere Option ist. Deshalb sollte man hinter seiner Wahl stehen und nach vorne blicken. Wer ständig darüber klagt, er sei zu kurz gekommen, wird zum Opfer des Lebens. Viele verwechseln diesen Mängelkatalog mit gesunder Selbstkritik.
… und machen sich so selbst klein.
Besser wäre es, das Gesamtbild gelten zu lassen. Der Blickwinkel ist entscheidend. Gerade bei der Betrachtung von Lebensübergängen tut es gut, sich einzugestehen, dass man gewisse Entscheidungen nachträglich anders treffen würde, dies aber damals nicht anders möglich gewesen ist. So nimmt man sich die Wahl auch nicht länger übel und versöhnt sich mit der eigenen Vergangenheit.
Wofür sind Sie am dankbarsten, wenn Sie auf Ihr Leben blicken?
Dass ich immer wieder auf anregende Leute traf, die mir den Mut gaben, meine Kreativität auszuleben. Ich bin auch dankbar, dass ich mich in schwierigen Lebenssituationen immer auf mich selbst verlassen konnte.
Die Emotionsexpertin
Schicksal als Wegweiser
Verena Kast ist 26 Jahre alt, als ihr Partner 1969 tödlich verunfallt. Vier Jahre später verliert sie ihre beste Freundin und Mitbewohnerin an Krebs. Deren beiden Kinder zieht sie fortan mit auf. Diese Verluste prägen sie nicht nur privat, sondern auch beruflich: 1982 veröffentlicht die Appenzellerin das Buch «Trauern – Phasen und Chancen des psychischen Prozesses». Es wird zum Standardwerk und zum Longseller.
Mehr als 80 Bücher!
Seit «Trauern» hat Verena Kast über 80 weitere Bücher verfasst, darunter weitere Bestseller wie das 1991 publizierte «Freude, Inspiration, Hoffnung». Sie erforschte die ganze Palette an menschlichen Gefühlen und schrieb zu Themen wie Liebe, Träume, Seele, Märchen, Beziehungen, Freundschaften, Vertrauen, Loslassen, Angst, Hass, Ärger, Identität, Alter oder Lebensrückblick.
«Abschied als Anfang»
Vor einem Monat ist im deutschen Patmos-Verlag ihr neustes Werk erschienen: «Abschied als Anfang – Leben ist Wandlung» kreist um zentrale Fragen zu Geburt und Tod, Abschied und Neubeginn. Verena Kast ist überzeugt: Wer Altes loslässt, öffnet Neuem die Tür.
Verena Kast, «Abschied als Anfang – Leben ist Wandlung», Patmos-Verlag, 160 Seiten, ca. CHF 30.–