Marco Solari: «Ich lebe zwischen zwei Welten»
Marco Solari weibelte jahrzehntelang fürs Tessin – zuletzt 23 Jahre als Präsident des Locarno Film Festivals. Im Interview erzählt der gebürtige Berner, weshalb sein Engagement eng mit seiner Biografie verknüpft ist.
Interview: Fabian Rottmeier, Fotos: Alfio Tommasini
Hier ein Händedruck, da ein Buongiorno, dort ein knapper Austausch. Der kurze Gang von der Hotelrezeption zum Gesprächsort auf der Terrasse des Luganer Fünfsternehotels Splendide Royal zeigt anschaulich, wie bekannt und beliebt Marco Solari in seiner Wahlheimat ist. Im Schatten eines Sonnenschirms antwortet der 79-jährige Berner wohlüberlegt.
Ihr Amt als Präsident des Locarno Film Festivals war mit Reisen, Meetings und Beziehungspflege verbunden. Mit Ihrem Rücktritt im August ist dieser Druck von Ihnen abgefallen. Wie haben Sie die erste Zeit ohne Ihr Amt erlebt?
Zwiespältig. Ich stand zum ersten Mal in meinem Leben ohne Verantwortung da – ganz im Gegensatz zu meinen früheren Aufgaben als Reiseleiter, Student an der Uni Genf, Verkehrsdirektor, Delegierter des Bundesrates, an der Konzernspitze von Migros und Ringier oder als Festivalpräsident. Plötzlich wachte ich morgens oder in der Nacht auf – und hatte keine Verantwortung mehr. Damit fiel aber auch eine Last ab. Je älter und erfahrener, desto sensibler und ängstlicher war ich geworden. Ich wusste, dass kleine Dinge grossen Schaden anrichten können.
Was vermissen Sie nach 23 Jahren am meisten?
Den täglichen Austausch mit meinem Team, der ein Jungbrunnen war. Abrupt war mein Abgang jedoch nicht, ich habe die Aufgaben in den letzten Jahren sukzessive übergeben. Nun ist es aber an mir, mich zurückzunehmen. Die Maxime der Berner Patrizier «Servir et disparaître» umschreibt es perfekt.
Schmerzt es, loszulassen?
Überhaupt nicht, im Gegenteil. Ich geniesse es auch. Oft erkläre ich die Situation mit einer Stöckli-Metapher: Im Kanton Bern, wo ich aufgewachsen bin, arbeitet der Ätti so lange, bis er den Hof altersbedingt übergeben muss. Dann zieht er sich ins leicht erhöhte Stöckli zurück. Dort blickt er, auf einer Bank und unter einer Linde sitzend, auf den Hof hinab. Wenn ein Gewitter im Anzug ist, packt er – falls gerufen – kurzerhand mit an. Ich hoffe natürlich, dass dies am Filmfestival nicht notwendig sein wird.
Sie haben sich etwas davor gefürchtet, die Kontrolle abzugeben, wie Sie in einem Interview zugaben.
Ich habe das Festival patronhaft geführt, wie ein président-directeur général. Ich musste lernen, dass diese Führungsart heute vorbei ist. Einige in meinem Team bekundeten manchmal etwas Mühe damit, dass ich meine Entscheide oft rasch fällte. Sie hätten es lieber gemeinsam ausdiskutiert. Diese Geduld hatte ich nicht mehr. Wahrscheinlich war meine Zeit abgelaufen.
Immerhin wurden Sie sich dessen selbst bewusst …
O nein, nein! Man musste es mir schon klarmachen.
Hat sich die Literatur seither – wie von Ihnen erhofft – als Rettungsanker bewährt?
Zu hundert Prozent. Ich lese nun noch mehr als zuvor, Zeitungen wie Bücher. Ich muss meine Lesegewohnheiten jedoch wie ein Benediktinermönch strukturieren: Ich kann nicht den ganzen Tag an einem einzigen Roman lesen – oder überhaupt stundenlang lesen. Aber ich kann die Lektüren einteilen. Ich gönne mir eine Stunde Thomas Mann, eine Stunde Dante, eine Stunde Montaigne, aber nur eine halbe Stunde Shakespeare. Diese altenglische Sprache ist doch eher anstrengend.
Sie vergleichen die Literatur gerne mit einem Ozean.
Jedes Buch führt mich zu zehn weiteren … und so weiter. Bücher bedeuten ein Eintauchen in eine neue Welt, die man zu verstehen und deuten versucht. Aber: Die Literatur führt den Leser in die Einsamkeit. Seine eigene Fantasie kann man mit niemandem teilen – ausser vielleicht in der Nachbesprechung. Kino hingegen ist ein Gemeinschaftserlebnis.
Sprache prägte bereits Ihre Kindheit, wuchsen Sie doch in Bern italienischsprachig auf, weil Ihr Tessiner Vater es so wollte. Ihre Mutter war Emmentalerin. Ihre Eltern kamen aus sehr unterschiedlichen Welten. Was verband die beiden?
Es war eine ganz andere Schweiz damals. Das Tessin war peripher in allem, abgeschnitten von Italien, getrennt von der restlichen Schweiz. Da die Universität Bern damals als Ort der Juristerei bekannt war, studierte mein Vater in der Hauptstadt. Dort lernte er meine Mutter kennen. Dass sie protestantisch war, sorgte in der Familie meines Vaters in den 1940er-Jahren für einen Aufschrei. Meine Grossmutter polterte: «Niemals!» Ich rechne es meinen Vater hoch an, dass er sich durchsetzte, sonst wäre ich nun ja nicht hier.
Wie gross ist der Unterschied zwischen der Deutschschweiz und dem Tessin heute?
Es sind noch immer zwei Welten, die sich nicht vereinen lassen. Europa kennt im Prinzip nur eine Grenze: die Nord- und Südgrenze. Die Ost-West-Grenze ist eine künstliche, militärische, meistens aufgezwungene. Ganz anders die Nord-Süd-Grenze. Sie ist auch eine Mentalitätsgrenze. Man denkt völlig unterschiedlich übers Leben. Im Norden geht man methodischer vor, im Süden fantasievoller. Diese beiden Welten können sich berühren, aber nicht vermischen. Jeder Versuch ist zum Scheitern verurteilt. Es ist eine innere Zerrissenheit, die mich bis heute begleitet. Nicht immer fühle ich mich zu Hause, weder da noch dort. Ich lebe zwischen zwei Welten.
Ihre Identifikation mit dem Tessin entspringt also dieser Zerrissenheit, die Sie und die Region vereint.
Genau. Ich habe in der Deutschschweiz mein ganzes Leben lang immer ein gewisses Unverständnis gespürt. Der Norden fühlt sich überlegen und hat viele Vorurteile gegenüber dem Süden. Gleichzeitig fühlen sich die Menschen im Norden fast magisch zum Süden hingezogen. Es ist immer auch eine Sehnsucht zum Licht, zur Sonne, die für Freiheit stehen.
War das Tessin für Ihren Vater ebenso ein Sehnsuchtsort, wie er es später für Sie wurde?
Mein Vater war Jurist. Juristen haben eine andere Beziehung zum Leben als Poeten. Sie sind viel analytischer. Mein Vater war nüchtern gegenüber Themen, die mich leidenschaftlich interessierten.
Wie Sie in Ihrem neuen Buch «Unverzichtbares Tessin» schildern, steht am Ursprung Ihrer Liebe für den Süden das Hotel di San Pellegrino Terme in Italien. Es wurde von Ihrer Tante und Ihrem Onkel geführt und Sie verbrachten dort als Kind und Jugendlicher Ihre Ferien. Ein Paradies?
Und wie! Die 1950er-Jahre erlaubten in Bern keine grossen Sprünge. Und mein Vater war streng. Plötzlich tat sich mir in diesem Grand Hotel eine Welt auf, die zugleich eine Theaterbühne war. Die Gäste waren sowohl Zuschauerinnen als auch Schauspieler. Ich fühlte mich frei. Die Begegnungen dort waren prägend. Ich traf hohe italienische Militäroffiziere, die mir vom Zweiten Weltkrieg berichteten, oder Schriftsteller, die mich in die italienische Literatur einführten sowie aristokratische Damen, die das Erzählen ihrer oft vergangenen Welt genossen. Der Kurort ebnete meinen Einstieg in den Tourismus.
Jahrzehntelang haben Sie sich später für die italienische Schweiz eingesetzt, sei es als Tourismusdirektor des Tessins, als Delegierter des Bundesrates oder als Präsident des Locarno Film Festivals. Was war Ihr Antrieb?
Als Kind beschimpfte man mich als Tschingg und behandelte mich minderwertig. Die herablassende Sichtweise der Deutschschweiz auf das Tessin störte mich sehr. Ich fühlte mich nicht akzeptiert. Als junger Verkehrsdirektor hatte ich plötzlich die Möglichkeit, an diesem klischierten Bild etwas zu ändern. Ich wusste, wo und mit wessen Hilfe ich die Fäden ziehen musste. Es gab damals kaum enge Kontakte zur Deutschschweiz – heute kaum mehr vorstellbar. Und so rutschte ich in die Rolle des Mittelsmanns zwischen dem Tessin, das ich über alles liebe, und der deutschen Schweiz, meiner zweiten Heimat. In Bern verbinde ich jeden Quadratmeter mit meiner persönlichen Geschichte.
2017 erhielten Sie für Ihre Verdienste um die Italianità einen der höchsten Orden, den Italien an ausländische Bürger vergibt. Hatte er auch etwas Versöhnliches, nachdem Sie einst schweren Herzens den Botschafterposten in Rom ausgeschlagen hatten?
Ich denke schon. Dieser Orden kam sehr überraschend, auch wenn man solche Auszeichnungen nie überbewerten darf. Aber es stimmt, es war eine Anerkennung für meine Anstrengungen, nicht nur die Deutschschweiz mit dem Tessin zu verbinden, sondern auch die Schweiz mit Italien. Ich war stets der Meinung, dass Bundesbern die Bedeutung Italiens unterschätzte.
Haben Sie einen gesunden Umgang mit Ihrer Popularität?
Meine Atelophobie ist diesbezüglich ein Segen.
Ihre was?!
Atelophobie ist die stete Angst, nicht zu genügen. Nach diesem Interview werde ich damit hadern, dass ich meine Antworten nicht wie gewünscht formuliert habe. Aber: Die Atelophobie hat mich gerettet, was meine Popularität betraf. Ich habe mir nie etwas daraus gemacht, auch wenn ich es geniesse, wenn mich die Leute auf der Strasse grüssen und sich für meinen Einsatz fürs Festival bedanken. Bundesrat Willi Ritschard sagte mir einst: «Je höher der Affe klettert, desto besser sieht man seinen Hintern.»
Das Tessin fällt im Umgang mit älteren Menschen durch Projekte und Einrichtungen auf, die es in der Deutschschweiz nicht gibt. Bindet der Süden die ältere Generation stärker mit ein?
Ja. Ich bin überzeugt, dass man älteren Menschen im Tessin einen grösseren Stellenwert einräumt. Das heisst nicht, dass es in den Alterszentren hier lustiger zu und her geht. Es macht mich traurig, dass viele Seniorinnen und Senioren einsam sind. Es bräuchte oft wenig, um etwas dagegen zu tun, gerade seitens der Familie und der Verwandten. Die Einsamkeit im Alter bereitet auch mir Angst. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass Ältere hier stärker in die Familie eingebunden sind. Und mir ist aufgefallen, dass etwa in italienischen Karikaturen, die einen Esstisch zeigen, immer auch die Grosseltern zu sehen sind.
Hat Ihre Corona–Erkrankung im März 2020, die Sie dem Tod sehr nahe brachte, Ihre Einstellung zum Alter beeinflusst?
Ich kann diese Frage nicht rational beantworten. Was ich aus der Intensivstation mitgenommen habe, ist die Einsicht: Wir sollten keine Angst vor dem Tod haben. Als ich im Spital in Locarno die Intubation verweigerte – im Wissen, dass dies mein Todesurteil sein könnte –, bin ich in eine andere Welt abgedriftet. Ich habe jedoch alles mitbekommen, was in meinem Zimmer besprochen wurde. Auch, wenn jemand neben mir gestorben ist. Mit einer grossen inneren Ruhe habe ich mich sukzessive auf mich selbst konzentriert. Alles fiel von mir ab. Meine Frau war später enttäuscht, als ich ihr gestehen musste, dass meine Gedanken nicht um sie gekreist waren. Ich wünsche allen, dass sie im Moment ihres Todes mit dieser Ruhe gehen können, wie ich sie damals verspürt habe.
Der Sinn des Lebens sei Geben statt Nehmen, sagen Sie. Wie möchten Sie dies nun als Pensionierter vorleben?
Man kann immer etwas geben. Jeden Tag, in jedem Moment. Etwa, indem man für etwas einsteht, jemandem mit einem Lächeln begegnet oder etwas Nettes sagt. Gestern fuhr ich mit dem letzten Bus nach Hause. Der Chauffeur fuhr unglaublich gut. Ruhig, ohne starkes Abbremsen oder ruckartiges Steuern. Fantastisch. Als ich ausstieg, machte ich ihm dafür ein Kompliment. Er hat sich enorm darüber gefreut und meinte, es sei das erste Mal, dass ihn jemand für seine Fahrweise lobe.
5 Fragen an … Marco Solari
Welche Art Mensch steckt hinter der Berühmtheit? Das möchten wir in unserem Format «5 Fragen an …» wissen. Schauen Sie sich hier die Antworten von Marco Solari an.
Zur Person
Er sage dies mit grosser Bescheidenheit, schickt Marco Solari im Gespräch mit der Zeitlupe voraus: «Der passende Titel für meine Karriere wäre: der Troubleshooter.» In seinem kürzlich im Elfundzehn-Verlag erschienenen Buch «Unverzichtbares Tessin» schaut der Manager auf viele spannende Episoden zurück: aus seiner Zeit als Tessiner Tourismusdirektor ebenso wie als Bundesratsdelegierter für die Vorbereitungen der 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft 1991 und als Präsident des Locarno Film Festivals. Disziplin und Loyalität waren dabei immer zentrale Werte. In Bern aufgewachsen, schloss er in Genf ein Studium der Sozialwissenschaften ab. Der am 28. Dezember 1944 geborene Marco Solari lebt mit seiner zweiten Frau Michela in der Nähe von Lugano. Er hat aus erster Ehe zwei erwachsene Söhne.